Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1300.001 §. 878. pvi_1300.0041. Jn Nachahmung der römischen Kunstpoesie bringt die romanische Literatur pvi_1300.005 1. Wir haben in §. 875 das Virgilische Epos aufgeführt, um den pvi_1300.015
pvi_1300.001 §. 878. pvi_1300.0041. Jn Nachahmung der römischen Kunstpoesie bringt die romanische Literatur pvi_1300.005 1. Wir haben in §. 875 das Virgilische Epos aufgeführt, um den pvi_1300.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0162" n="1300"/><lb n="pvi_1300.001"/> Momenten glücklicher Zurückversetzung in das Helldunkel der Volksphantasie <lb n="pvi_1300.002"/> gelingen.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1300.003"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 878.</hi> </p> <lb n="pvi_1300.004"/> <note place="left">1.</note> <p> Jn Nachahmung der römischen Kunstpoesie bringt die romanische Literatur <lb n="pvi_1300.005"/> ein <hi rendition="#g">religiöses Epos</hi> hervor, das allerdings ein Totalbild eines ganzen Zeitalters <lb n="pvi_1300.006"/> darstellt, auch Bestandtheile von gediegener epischer Objectivität hat, als <lb n="pvi_1300.007"/> Ganzes aber, auch abgesehen von der scholastischen Anordnung und Speculation, <lb n="pvi_1300.008"/> der Herrschaft der Allegorie, den Beweis liefert, daß diese Form den Gesetzen <lb n="pvi_1300.009"/> <note place="left">2.</note>der Dichtart nicht angemessen ist. Die Gedichte <hi rendition="#g">weltlich</hi> romantischen Jnhalts, <lb n="pvi_1300.010"/> welche der reifen Kunstbildung ebenda entspringen und jenen mit geistreicher <lb n="pvi_1300.011"/> Jronie zum Mährchen verflüchtigen oder mit ernstem Sinn an eine weltgeschichtliche <lb n="pvi_1300.012"/> That phantastisch religiöser Begeisterung knüpfen, sind ebenso wenig <lb n="pvi_1300.013"/> ächte Gebilde des epischen Geistes.</p> <lb n="pvi_1300.014"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Wir haben in §. 875 das Virgilische Epos aufgeführt, um den <lb n="pvi_1300.015"/> Satz festzustellen, daß im Gebiete des ächten, ursprünglichen Epos die Nachahmung <lb n="pvi_1300.016"/> durch Kunstpoesie ein Widerspruch ist, der nur zweifelhafte Producte <lb n="pvi_1300.017"/> hervorbringen kann. Dieser Satz findet nun seine Anwendung auf die <lb n="pvi_1300.018"/> ganze Gruppe von Erscheinungen, die aus Virgil's Einfluß entstanden sind, <lb n="pvi_1300.019"/> und zwar in doppelter Stärke, da diese den Nachahmer nachahmen. Dieß <lb n="pvi_1300.020"/> lag freilich den stamm- und bildungsverwandten Jtalienern näher, als einem <lb n="pvi_1300.021"/> andern Volke. Was nun <hi rendition="#g">Dante</hi> betrifft, so schafft sein gewaltiger Geist <lb n="pvi_1300.022"/> allerdings, wie es scheint, in der Gattung eine neue Form, die <hi rendition="#g">religiöse.</hi> <lb n="pvi_1300.023"/> Wir behaupten aber, daß diese Form im Widerspruche mit dem Wesen der <lb n="pvi_1300.024"/> Dicht-Art liegt. Eine wesentliche Gestalt der Poesie, deren innerster Geist gediegene <lb n="pvi_1300.025"/> Objectivität ist, verlangt, daß die reale Welt mit einfach menschlichen <lb n="pvi_1300.026"/> Motiven der eigentliche Hauptkörper der Dichtung sei, neben welchem das <lb n="pvi_1300.027"/> Mythische als eine naive Doppeltsetzung, ideale Spiegelung dieser Motive <lb n="pvi_1300.028"/> sich unbefangen in das Bild einer also ungebrochenen Welt einflechte; das <lb n="pvi_1300.029"/> Reale nimmt den festen Grund und Boden ein, das Mythische lagert leicht <lb n="pvi_1300.030"/> darüber und steigt beliebig darauf herab. Bei Dante dagegen herrscht ein <lb n="pvi_1300.031"/> Aufsteigen vom Realen zum Mythischen: die ganze Welt wird unter dem <lb n="pvi_1300.032"/> Standpunct einer Hinaufläuterung zur durchsichtigen, körperlos körperlichen, <lb n="pvi_1300.033"/> mystischen Einheit mit dem Göttlichen als des höchsten Zieles angeschaut, <lb n="pvi_1300.034"/> alles Sinnliche ist nur symbolischer Spiegel des Jenseits und dadurch die <lb n="pvi_1300.035"/> Kraft des Daseins negativ behandelt; das Jenseits ist die Wahrheit. Dieß <lb n="pvi_1300.036"/> ist nun ein für allemal unepisch, eine Spezialität des Mittelalters, während <lb n="pvi_1300.037"/> Homer auch dem Christen ewig wahr bleibt. Dante's Genius war groß <lb n="pvi_1300.038"/> genug, um eine Totalität zu schaffen, wie wir sie für das Epos verlangen, <lb n="pvi_1300.039"/> er umfaßt sein Weltalter, ja die ganze Welt und Geschichte, aber vom </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1300/0162]
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Momenten glücklicher Zurückversetzung in das Helldunkel der Volksphantasie pvi_1300.002
gelingen.
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§. 878.
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Jn Nachahmung der römischen Kunstpoesie bringt die romanische Literatur pvi_1300.005
ein religiöses Epos hervor, das allerdings ein Totalbild eines ganzen Zeitalters pvi_1300.006
darstellt, auch Bestandtheile von gediegener epischer Objectivität hat, als pvi_1300.007
Ganzes aber, auch abgesehen von der scholastischen Anordnung und Speculation, pvi_1300.008
der Herrschaft der Allegorie, den Beweis liefert, daß diese Form den Gesetzen pvi_1300.009
der Dichtart nicht angemessen ist. Die Gedichte weltlich romantischen Jnhalts, pvi_1300.010
welche der reifen Kunstbildung ebenda entspringen und jenen mit geistreicher pvi_1300.011
Jronie zum Mährchen verflüchtigen oder mit ernstem Sinn an eine weltgeschichtliche pvi_1300.012
That phantastisch religiöser Begeisterung knüpfen, sind ebenso wenig pvi_1300.013
ächte Gebilde des epischen Geistes.
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1. Wir haben in §. 875 das Virgilische Epos aufgeführt, um den pvi_1300.015
Satz festzustellen, daß im Gebiete des ächten, ursprünglichen Epos die Nachahmung pvi_1300.016
durch Kunstpoesie ein Widerspruch ist, der nur zweifelhafte Producte pvi_1300.017
hervorbringen kann. Dieser Satz findet nun seine Anwendung auf die pvi_1300.018
ganze Gruppe von Erscheinungen, die aus Virgil's Einfluß entstanden sind, pvi_1300.019
und zwar in doppelter Stärke, da diese den Nachahmer nachahmen. Dieß pvi_1300.020
lag freilich den stamm- und bildungsverwandten Jtalienern näher, als einem pvi_1300.021
andern Volke. Was nun Dante betrifft, so schafft sein gewaltiger Geist pvi_1300.022
allerdings, wie es scheint, in der Gattung eine neue Form, die religiöse. pvi_1300.023
Wir behaupten aber, daß diese Form im Widerspruche mit dem Wesen der pvi_1300.024
Dicht-Art liegt. Eine wesentliche Gestalt der Poesie, deren innerster Geist gediegene pvi_1300.025
Objectivität ist, verlangt, daß die reale Welt mit einfach menschlichen pvi_1300.026
Motiven der eigentliche Hauptkörper der Dichtung sei, neben welchem das pvi_1300.027
Mythische als eine naive Doppeltsetzung, ideale Spiegelung dieser Motive pvi_1300.028
sich unbefangen in das Bild einer also ungebrochenen Welt einflechte; das pvi_1300.029
Reale nimmt den festen Grund und Boden ein, das Mythische lagert leicht pvi_1300.030
darüber und steigt beliebig darauf herab. Bei Dante dagegen herrscht ein pvi_1300.031
Aufsteigen vom Realen zum Mythischen: die ganze Welt wird unter dem pvi_1300.032
Standpunct einer Hinaufläuterung zur durchsichtigen, körperlos körperlichen, pvi_1300.033
mystischen Einheit mit dem Göttlichen als des höchsten Zieles angeschaut, pvi_1300.034
alles Sinnliche ist nur symbolischer Spiegel des Jenseits und dadurch die pvi_1300.035
Kraft des Daseins negativ behandelt; das Jenseits ist die Wahrheit. Dieß pvi_1300.036
ist nun ein für allemal unepisch, eine Spezialität des Mittelalters, während pvi_1300.037
Homer auch dem Christen ewig wahr bleibt. Dante's Genius war groß pvi_1300.038
genug, um eine Totalität zu schaffen, wie wir sie für das Epos verlangen, pvi_1300.039
er umfaßt sein Weltalter, ja die ganze Welt und Geschichte, aber vom
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