Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1274.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0136" n="1274"/><lb n="pvi_1274.001"/> der Natur, darf sich über die Jrrationalität in der Durchkreuzung der Naturgesetze <lb n="pvi_1274.002"/> nicht beklagen; es ist nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethischen <lb n="pvi_1274.003"/> Zusammenhang das Gesetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge <lb n="pvi_1274.004"/> gewisser Ursachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke, <lb n="pvi_1274.005"/> Reichthum u. s. w. ertheilt, darf er sich freuen, ohne ihn ängstlich vom <lb n="pvi_1274.006"/> Verdienste zu unterscheiden (Schiller's Gedicht: das Glück ist episch gefühlt); <lb n="pvi_1274.007"/> das Gut wird nicht minder geschätzt, als das Gute, und es genügt, daß <lb n="pvi_1274.008"/> der Eingriff des Zufalls in den sittlichen Zusammenhang, der ihm in seinem <lb n="pvi_1274.009"/> Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an seinem Endpunct aufgenommen werde. <lb n="pvi_1274.010"/> Odysseus ist ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch <lb n="pvi_1274.011"/> nicht ethisch motivirt ist, und er bethätigt sich als Heldenseele, indem er <lb n="pvi_1274.012"/> sich hindurchringt. Es ist im Ganzen dieser Verhältnisse begründet, daß <lb n="pvi_1274.013"/> jene Form des Tragischen, die der §. aus dem ersten Theil (§. 130. 131) <lb n="pvi_1274.014"/> anführt und die wir auch das Naturtragische nennen können, vorzüglich <lb n="pvi_1274.015"/> dieser Weltanschauung entspricht. Früher Tod eines jugendlich strahlenden <lb n="pvi_1274.016"/> Helden ist Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums; <lb n="pvi_1274.017"/> aber auch abgesehen von bestimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der <lb n="pvi_1274.018"/> Wehmuth über jeder wahren epischen Dichtung, der nur vollständiger zu <lb n="pvi_1274.019"/> erklären ist, als Hegel gethan hat, indem er blos die Einzelschicksale berücksichtigt <lb n="pvi_1274.020"/> (a. a. O. S. 366. 367). Es bringt schon der Klang der Vergangenheit, <lb n="pvi_1274.021"/> jenes Zeitgefühl im Epischen den Ton der Trauer mit sich: <lb n="pvi_1274.022"/> wir sehen die Geschlechter kommen und gehen und werden einst auch hinabsinken. <lb n="pvi_1274.023"/> Jm ächten, ursprünglichen Heldengedicht hat aber dieser elegische <lb n="pvi_1274.024"/> Hauch den besonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich <lb n="pvi_1274.025"/> des jugendlichen Heros, ist ein Bild des unabänderlichen Entschwindens <lb n="pvi_1274.026"/> des Jugendalters, des Jünglings-Lebens der Völker, das noch keine Prosa <lb n="pvi_1274.027"/> kennt; natürlich kein absichtliches Bild, sondern unbewußter Ausdruck eines <lb n="pvi_1274.028"/> tiefen Gefühls. Es folgt aber aus diesem Stimmungs-Elemente keineswegs <lb n="pvi_1274.029"/> die Nothwendigkeit tragischen Endes für das Ganze des Epos. Hier <lb n="pvi_1274.030"/> wird sich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den <lb n="pvi_1274.031"/> Nationen ist, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß ist <lb n="pvi_1274.032"/> der eine Grund für das Vorherrschen glücklichen Schlusses in dieser Dichtungsart, <lb n="pvi_1274.033"/> der andere liegt im Weltbild überhaupt, sofern es keine revolutionär <lb n="pvi_1274.034"/> durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie <lb n="pvi_1274.035"/> des Willens mit den Naturmächten, der „Eingestimmtheit der Helden mit <lb n="pvi_1274.036"/> dem Schicksal“ (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entspricht <lb n="pvi_1274.037"/> insbesondere jener vorläufig schon berührten Form des Epos, die dem Sittenbild <lb n="pvi_1274.038"/> in engerem Sinne verwandt ist, denn wo es sich weniger um <lb n="pvi_1274.039"/> große Thaten, als um persönliche Schicksale, häusliches, geselliges Leben <lb n="pvi_1274.040"/> handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens <lb n="pvi_1274.041"/> zurück und mögen wir das freundliche Glück walten sehen. Dabei wird </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1274/0136]
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der Natur, darf sich über die Jrrationalität in der Durchkreuzung der Naturgesetze pvi_1274.002
nicht beklagen; es ist nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethischen pvi_1274.003
Zusammenhang das Gesetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge pvi_1274.004
gewisser Ursachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke, pvi_1274.005
Reichthum u. s. w. ertheilt, darf er sich freuen, ohne ihn ängstlich vom pvi_1274.006
Verdienste zu unterscheiden (Schiller's Gedicht: das Glück ist episch gefühlt); pvi_1274.007
das Gut wird nicht minder geschätzt, als das Gute, und es genügt, daß pvi_1274.008
der Eingriff des Zufalls in den sittlichen Zusammenhang, der ihm in seinem pvi_1274.009
Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an seinem Endpunct aufgenommen werde. pvi_1274.010
Odysseus ist ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch pvi_1274.011
nicht ethisch motivirt ist, und er bethätigt sich als Heldenseele, indem er pvi_1274.012
sich hindurchringt. Es ist im Ganzen dieser Verhältnisse begründet, daß pvi_1274.013
jene Form des Tragischen, die der §. aus dem ersten Theil (§. 130. 131) pvi_1274.014
anführt und die wir auch das Naturtragische nennen können, vorzüglich pvi_1274.015
dieser Weltanschauung entspricht. Früher Tod eines jugendlich strahlenden pvi_1274.016
Helden ist Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums; pvi_1274.017
aber auch abgesehen von bestimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der pvi_1274.018
Wehmuth über jeder wahren epischen Dichtung, der nur vollständiger zu pvi_1274.019
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(a. a. O. S. 366. 367). Es bringt schon der Klang der Vergangenheit, pvi_1274.021
jenes Zeitgefühl im Epischen den Ton der Trauer mit sich: pvi_1274.022
wir sehen die Geschlechter kommen und gehen und werden einst auch hinabsinken. pvi_1274.023
Jm ächten, ursprünglichen Heldengedicht hat aber dieser elegische pvi_1274.024
Hauch den besonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich pvi_1274.025
des jugendlichen Heros, ist ein Bild des unabänderlichen Entschwindens pvi_1274.026
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kennt; natürlich kein absichtliches Bild, sondern unbewußter Ausdruck eines pvi_1274.028
tiefen Gefühls. Es folgt aber aus diesem Stimmungs-Elemente keineswegs pvi_1274.029
die Nothwendigkeit tragischen Endes für das Ganze des Epos. Hier pvi_1274.030
wird sich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den pvi_1274.031
Nationen ist, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß ist pvi_1274.032
der eine Grund für das Vorherrschen glücklichen Schlusses in dieser Dichtungsart, pvi_1274.033
der andere liegt im Weltbild überhaupt, sofern es keine revolutionär pvi_1274.034
durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie pvi_1274.035
des Willens mit den Naturmächten, der „Eingestimmtheit der Helden mit pvi_1274.036
dem Schicksal“ (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entspricht pvi_1274.037
insbesondere jener vorläufig schon berührten Form des Epos, die dem Sittenbild pvi_1274.038
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große Thaten, als um persönliche Schicksale, häusliches, geselliges Leben pvi_1274.040
handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens pvi_1274.041
zurück und mögen wir das freundliche Glück walten sehen. Dabei wird
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