Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1270.001 2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrscht auch die Freude pvi_1270.029
pvi_1270.001 2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrscht auch die Freude pvi_1270.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0132" n="1270"/><lb n="pvi_1270.001"/> folgt dem Zuge des Zwecks als einer Macht, von der man gebunden ist, <lb n="pvi_1270.002"/> ohne zu fragen: warum? So halten die Griechen und die Nibelungen zusammen, <lb n="pvi_1270.003"/> ohne sich von einer allgemeineren Jdee als Grund ihres Handelns <lb n="pvi_1270.004"/> Rechenschaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei sie die <lb n="pvi_1270.005"/> höhere Bedeutung des Kampfes von Occident gegen Orient kaum ahnen, <lb n="pvi_1270.006"/> diese durch das Band der Vasallentreue vereinigt. Auch der stillere Bruder <lb n="pvi_1270.007"/> des Epos, der Roman und was ihm verwandt ist, spielt immer unter <lb n="pvi_1270.008"/> Massen, die etwas zusammenbindet, was als unvordenkliches Gesammtproduct <lb n="pvi_1270.009"/> unbestimmt vieler Jndividuen stärker ist, als das einzelne Jndividuum, und <lb n="pvi_1270.010"/> über der Willkür desselben steht. Daher fühlt sich überhaupt auch in einzelnen <lb n="pvi_1270.011"/> Anschauungen alles massenhaft Bewegte episch an, z. B. das Gewoge <lb n="pvi_1270.012"/> einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: so der Zug der <lb n="pvi_1270.013"/> Ausgewanderten in Göthe's Hermann und Dorothea, mit den Wagenladungen, <lb n="pvi_1270.014"/> denen man die wahllose Hast des Aufbruchs ansieht, der Wirrwarr, <lb n="pvi_1270.015"/> der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld <lb n="pvi_1270.016"/> entsteht, womit man sich auf eine Quelle stürzt. Ziehen, Wandern in <lb n="pvi_1270.017"/> Menge ist immer namentlich episch; der epische Mensch hat etwas vom <lb n="pvi_1270.018"/> instinctmäßigen sich Schaaren und Reisen der Zugvögel, der Gesellung der <lb n="pvi_1270.019"/> Thiere überhaupt, man ist geneigt, Jäger-Ausdrücke wie Rudel u. dergl. <lb n="pvi_1270.020"/> von ihm zu gebrauchen. Episch ist das Heer des Xerxes mit seinen fremdartigen <lb n="pvi_1270.021"/> Völkern, Waffen, Trachten, wie es sich gegen Griechenland heranwälzt, <lb n="pvi_1270.022"/> in der Schilderung des Herodot, episch ist die Völkerwanderung. <lb n="pvi_1270.023"/> Es folgt aus dieser Masse der Mitwirkenden als eine Grundeigenschaft des <lb n="pvi_1270.024"/> Epos die <hi rendition="#g">Polymythie,</hi> die Erweiterung der Einen Handlung in viele <lb n="pvi_1270.025"/> (Aristoteles a. a. O. C. 18), denn wo Massen sich betheiligen, treten nothwendig <lb n="pvi_1270.026"/> besondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß <lb n="pvi_1270.027"/> führt auf die Episoden, wovon nachher bei Erörterung der Composition.</hi> </p> <lb n="pvi_1270.028"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrscht auch die Freude <lb n="pvi_1270.029"/> an dem, was ist, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen, <lb n="pvi_1270.030"/> was es gibt. Diese Naivetät darf selbst dem modernen, epischen Dichter <lb n="pvi_1270.031"/> nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter <lb n="pvi_1270.032"/> ist der Mensch in seiner äußeren Erscheinung zu verstehen, wie sie die Gefühls= <lb n="pvi_1270.033"/> und Auffassungsweise, den geistigen Bildungszustand einer Zeit, eines <lb n="pvi_1270.034"/> Volks charakterisirt; die gesammten, geistigen, sittlichen Sphären, Wissenschaft, <lb n="pvi_1270.035"/> Kenntnisse, Religion, moralische Begriffe, Vorurtheile und conventionelle <lb n="pvi_1270.036"/> Maaßstäbe, Verhältnisse, Sitten: Alles dieß, sofern es in bestimmten <lb n="pvi_1270.037"/> Formen <hi rendition="#g">erscheint,</hi> durch die Hand der Technik auf einer bestimmten Stufe <lb n="pvi_1270.038"/> sich in stehender Weise ausprägt, heißt Culturform. Von außen treten die <lb n="pvi_1270.039"/> klimatischen, tellurischen Bedingungen hinzu, aber nur, sofern sie mit der <lb n="pvi_1270.040"/> geistigen Bestimmtheit zusammenwirken, begründen sie Culturformen. Die <lb n="pvi_1270.041"/> Kunststyle selbst heißen Culturformen, sofern sich die geistigen Grundzüge </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1270/0132]
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folgt dem Zuge des Zwecks als einer Macht, von der man gebunden ist, pvi_1270.002
ohne zu fragen: warum? So halten die Griechen und die Nibelungen zusammen, pvi_1270.003
ohne sich von einer allgemeineren Jdee als Grund ihres Handelns pvi_1270.004
Rechenschaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei sie die pvi_1270.005
höhere Bedeutung des Kampfes von Occident gegen Orient kaum ahnen, pvi_1270.006
diese durch das Band der Vasallentreue vereinigt. Auch der stillere Bruder pvi_1270.007
des Epos, der Roman und was ihm verwandt ist, spielt immer unter pvi_1270.008
Massen, die etwas zusammenbindet, was als unvordenkliches Gesammtproduct pvi_1270.009
unbestimmt vieler Jndividuen stärker ist, als das einzelne Jndividuum, und pvi_1270.010
über der Willkür desselben steht. Daher fühlt sich überhaupt auch in einzelnen pvi_1270.011
Anschauungen alles massenhaft Bewegte episch an, z. B. das Gewoge pvi_1270.012
einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: so der Zug der pvi_1270.013
Ausgewanderten in Göthe's Hermann und Dorothea, mit den Wagenladungen, pvi_1270.014
denen man die wahllose Hast des Aufbruchs ansieht, der Wirrwarr, pvi_1270.015
der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld pvi_1270.016
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von ihm zu gebrauchen. Episch ist das Heer des Xerxes mit seinen fremdartigen pvi_1270.021
Völkern, Waffen, Trachten, wie es sich gegen Griechenland heranwälzt, pvi_1270.022
in der Schilderung des Herodot, episch ist die Völkerwanderung. pvi_1270.023
Es folgt aus dieser Masse der Mitwirkenden als eine Grundeigenschaft des pvi_1270.024
Epos die Polymythie, die Erweiterung der Einen Handlung in viele pvi_1270.025
(Aristoteles a. a. O. C. 18), denn wo Massen sich betheiligen, treten nothwendig pvi_1270.026
besondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß pvi_1270.027
führt auf die Episoden, wovon nachher bei Erörterung der Composition.
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2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrscht auch die Freude pvi_1270.029
an dem, was ist, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen, pvi_1270.030
was es gibt. Diese Naivetät darf selbst dem modernen, epischen Dichter pvi_1270.031
nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter pvi_1270.032
ist der Mensch in seiner äußeren Erscheinung zu verstehen, wie sie die Gefühls= pvi_1270.033
und Auffassungsweise, den geistigen Bildungszustand einer Zeit, eines pvi_1270.034
Volks charakterisirt; die gesammten, geistigen, sittlichen Sphären, Wissenschaft, pvi_1270.035
Kenntnisse, Religion, moralische Begriffe, Vorurtheile und conventionelle pvi_1270.036
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klimatischen, tellurischen Bedingungen hinzu, aber nur, sofern sie mit der pvi_1270.040
geistigen Bestimmtheit zusammenwirken, begründen sie Culturformen. Die pvi_1270.041
Kunststyle selbst heißen Culturformen, sofern sich die geistigen Grundzüge
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