Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung pvi_1265.005 vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist, kann der pvi_1265.006 Dichter seinen Gegenstand nur dadurch hinstellen und halten, daß er ihn als pvi_1265.007 eine vergangene Begebenheit erzählt. Als Erzähler bleibt er aber pvi_1265.008 neben dem Jnhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit pvi_1265.009 sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und pvi_1265.010 weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges pvi_1265.011 Leben des Gegenstands.
pvi_1265.012
Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler pvi_1265.013 in der Aehnlichkeit genauer in's Licht zu setzen. Dieser nimmt einen Stoff pvi_1265.014 in seine Phantasie auf, greift dann zu körperlichem Materiale, formt, meiselt, pvi_1265.015 malt daran und damit, bis sein Phantasiebild in voller, scharf abgeschnittener, pvi_1265.016 räumlicher Gegenüberstellung vor den Zuschauer tritt. Jetzt ist der pvi_1265.017 Künstler verschwunden, er hat sein Werk stehen lassen, wir finden es im pvi_1265.018 Raume vor wie ein schönes Natur-Object. Der Dichter aber bleibt bei pvi_1265.019 seinem Werke; er ist thatsächlich auch weggegangen, nachdem er es vollendet pvi_1265.020 hat, aber während wir es genießen, mag es ein Anderer vortragen oder pvi_1265.021 mögen wir es lesen, ist er dabei und darin, denn statt des Materials hat pvi_1265.022 er ja nur das Wort, er spricht es, er spricht mit uns, bis wir zu Ende pvi_1265.023 sind. Und dieß wird eben gerade ausdrücklich fühlbar, wo er uns Vergangenes pvi_1265.024 vorträgt: da leuchtet recht ein, wie wir im lebendigen Worte den pvi_1265.025 Dichter zugleich gegenwärtig haben, während der ihm so verwandte bildende pvi_1265.026 Künstler schweigend sein Werk im uneigentlichen Sinne erzählen läßt. Daher pvi_1265.027 heißt diese Gattung Epos: Wort. Wir nennen das Verhältniß zwischen pvi_1265.028 dem Dichter und dem Jnhalt im Epos das einer naiven Synthese, weil pvi_1265.029 bei diesem einfachen Vortreten des erzählenden Dichters noch gar nicht gefragt pvi_1265.030 wird, inwieweit er denn der Umbildner, Schöpfer des Jnhalts sei; pvi_1265.031 genug, sein Subject ist da. Soll sein Werk in emphatischem Sinn objectiv pvi_1265.032 heißen wie das des bildenden Künstlers, so muß diese Eigenschaft anderswo pvi_1265.033 liegen, als in dem eigentlichen Verfahren. Zunächst ist es die Vergangenheit pvi_1265.034 des Stoffs als einer Begebenheit, was die Objectivität mit sich bringt. pvi_1265.035 Das Vergangene ist fertig, abgesondert vom Subjecte, tritt in beschlossenem pvi_1265.036 Gegenschlag ihm gegenüber. Hiemit steht aber im innigsten Zusammenhange
pvi_1265.001
α. Die epische Dichtung.
pvi_1265.002
1. Jhr Wesen.
pvi_1265.003
§. 865.
pvi_1265.004
Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung pvi_1265.005 vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist, kann der pvi_1265.006 Dichter seinen Gegenstand nur dadurch hinstellen und halten, daß er ihn als pvi_1265.007 eine vergangene Begebenheit erzählt. Als Erzähler bleibt er aber pvi_1265.008 neben dem Jnhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit pvi_1265.009 sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und pvi_1265.010 weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges pvi_1265.011 Leben des Gegenstands.
pvi_1265.012
Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler pvi_1265.013 in der Aehnlichkeit genauer in's Licht zu setzen. Dieser nimmt einen Stoff pvi_1265.014 in seine Phantasie auf, greift dann zu körperlichem Materiale, formt, meiselt, pvi_1265.015 malt daran und damit, bis sein Phantasiebild in voller, scharf abgeschnittener, pvi_1265.016 räumlicher Gegenüberstellung vor den Zuschauer tritt. Jetzt ist der pvi_1265.017 Künstler verschwunden, er hat sein Werk stehen lassen, wir finden es im pvi_1265.018 Raume vor wie ein schönes Natur-Object. Der Dichter aber bleibt bei pvi_1265.019 seinem Werke; er ist thatsächlich auch weggegangen, nachdem er es vollendet pvi_1265.020 hat, aber während wir es genießen, mag es ein Anderer vortragen oder pvi_1265.021 mögen wir es lesen, ist er dabei und darin, denn statt des Materials hat pvi_1265.022 er ja nur das Wort, er spricht es, er spricht mit uns, bis wir zu Ende pvi_1265.023 sind. Und dieß wird eben gerade ausdrücklich fühlbar, wo er uns Vergangenes pvi_1265.024 vorträgt: da leuchtet recht ein, wie wir im lebendigen Worte den pvi_1265.025 Dichter zugleich gegenwärtig haben, während der ihm so verwandte bildende pvi_1265.026 Künstler schweigend sein Werk im uneigentlichen Sinne erzählen läßt. Daher pvi_1265.027 heißt diese Gattung Epos: Wort. Wir nennen das Verhältniß zwischen pvi_1265.028 dem Dichter und dem Jnhalt im Epos das einer naiven Synthese, weil pvi_1265.029 bei diesem einfachen Vortreten des erzählenden Dichters noch gar nicht gefragt pvi_1265.030 wird, inwieweit er denn der Umbildner, Schöpfer des Jnhalts sei; pvi_1265.031 genug, sein Subject ist da. Soll sein Werk in emphatischem Sinn objectiv pvi_1265.032 heißen wie das des bildenden Künstlers, so muß diese Eigenschaft anderswo pvi_1265.033 liegen, als in dem eigentlichen Verfahren. Zunächst ist es die Vergangenheit pvi_1265.034 des Stoffs als einer Begebenheit, was die Objectivität mit sich bringt. pvi_1265.035 Das Vergangene ist fertig, abgesondert vom Subjecte, tritt in beschlossenem pvi_1265.036 Gegenschlag ihm gegenüber. Hiemit steht aber im innigsten Zusammenhange
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1. Jhr Wesen. pvi_1265.003
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Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung pvi_1265.005
vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist, kann der pvi_1265.006
Dichter seinen Gegenstand nur dadurch hinstellen und halten, daß er ihn als pvi_1265.007
eine vergangene Begebenheit erzählt. Als Erzähler bleibt er aber pvi_1265.008
neben dem Jnhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit pvi_1265.009
sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und pvi_1265.010
weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges pvi_1265.011
Leben des Gegenstands.
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Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler pvi_1265.013
in der Aehnlichkeit genauer in's Licht zu setzen. Dieser nimmt einen Stoff pvi_1265.014
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malt daran und damit, bis sein Phantasiebild in voller, scharf abgeschnittener, pvi_1265.016
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heißen wie das des bildenden Künstlers, so muß diese Eigenschaft anderswo pvi_1265.033
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/127>, abgerufen am 18.07.2024.
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