Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1241.001 §. 857. pvi_1241.030Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung pvi_1241.031
pvi_1241.001 §. 857. pvi_1241.030Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung pvi_1241.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0103" n="1241"/><lb n="pvi_1241.001"/> nichts zu schaffen. Das Band zwischen ihr und der Sprache <lb n="pvi_1241.002"/> kann ein engeres oder freieres sein; die deutsche Rhythmik entnimmt den <lb n="pvi_1241.003"/> Unterschied der Stärke und Schwäche aus <hi rendition="#g">dieser,</hi> die antike that es <lb n="pvi_1241.004"/> nicht; allein der Satz, daß die Rhythmik nur in der Sprache realisirt <lb n="pvi_1241.005"/> werden kann, bedarf der Verstärkung durch die erstere Thatsache nicht, er <lb n="pvi_1241.006"/> steht fest auch bei dem antiken Verhältniß, wogegen in der Musik, wenn <lb n="pvi_1241.007"/> sie sich mit der Sprache verbindet, diese durchaus nicht die Bedeutung eines <lb n="pvi_1241.008"/> Vehikels hat, dessen die bestimmende Kunstgattung bedarf, um zu existiren. <lb n="pvi_1241.009"/> Die Füllung, die der Rhythmus durch seine Realisirung in der Sprache <lb n="pvi_1241.010"/> erhält, bringt nun aber dennoch Elemente hinzu, welche näher oder entfernter <lb n="pvi_1241.011"/> dem Musikalischen entsprechen. Den Sprachlauten ist nicht alle <lb n="pvi_1241.012"/> Reminiscenz, daß sie ursprünglich das Gefühl des Gegenstands, des Tiefen, <lb n="pvi_1241.013"/> Dunkeln, Dumpfen, Hohen, Hellen, Offenen, Herben, Sanften, Geschlossenen, <lb n="pvi_1241.014"/> Freudigen, Schmerzlichen u. s. w. ausdrückten, verloren gegangen, <lb n="pvi_1241.015"/> man mag dieß zunächst mit der Klangfarbe vergleichen; die Vocale sprechen <lb n="pvi_1241.016"/> sich zudem an sich in bestimmten Unterschieden der Höhe und Tiefe aus und <lb n="pvi_1241.017"/> eine neue Welt von Musik=ähnlichen Modificationen bringt (vom eigentlich <lb n="pvi_1241.018"/> musikalischen Vortrag hier natürlich abgesehen) die Declamation hinzu: <lb n="pvi_1241.019"/> Belebungen, die theils der Scala, theils jenem Unterschiede der Stärkung <lb n="pvi_1241.020"/> oder Schwächung des einzelnen Tones angehören, der vom Takt-Accente <lb n="pvi_1241.021"/> wohl zu unterscheiden ist, theils der Beschleunigung oder Hemmung im <lb n="pvi_1241.022"/> Tempo entsprechen; die Wiederkehr des Verses endlich und besonders die <lb n="pvi_1241.023"/> des symmetrischen Wechsels in der Strophe wird zwar nur successiv vernommen, <lb n="pvi_1241.024"/> aber das innere Gehör faßt das Nacheinander doch wie in ein <lb n="pvi_1241.025"/> gleichzeitiges Tönen zusammen und dadurch nähert sich der Eindruck entfernt <lb n="pvi_1241.026"/> dem Gefühle der musikalischen Harmonie. Diese Anklänge an die Musik <lb n="pvi_1241.027"/> verstärken sich, wo die Rhythmik sich mit dem Reime verbindet; doch hängt <lb n="pvi_1241.028"/> damit Verlust auf der andern Seite zusammen, wie sich zeigen wird.</hi> </p> <lb n="pvi_1241.029"/> <p> <hi rendition="#c">§. 857.</hi> </p> <lb n="pvi_1241.030"/> <p> Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung <lb n="pvi_1241.031"/> wie die Musik, sondern des zur bewußten Vorstellung entwickelten Jnhalts der <lb n="pvi_1241.032"/> Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über diese Scheidung fortdauert <lb n="pvi_1241.033"/> und seinen Ausdruck in der rhythmischen Form findet. Diese Seite ist <lb n="pvi_1241.034"/> aber ebendaher darauf eingeschränkt, daß nicht das Ganze der Stimmung, <lb n="pvi_1241.035"/> daher auch nicht ihr individueller Wechsel, sondern nur ihre allgemeine Gang- <lb n="pvi_1241.036"/> Art in der gemessenen äußern Kunstform sich Gestalt geben kann. Denn obwohl <lb n="pvi_1241.037"/> die gleichförmige Wiederkehr von dem einfachen Fortgang im <hi rendition="#g">Verse</hi> zum <lb n="pvi_1241.038"/> geregelten Wechsel von zwei ungleichen Versen und weiter zu der symmetrischen <lb n="pvi_1241.039"/> Zusammenstellung mehrerer verschiedener Verse in der <hi rendition="#g">Strophe,</hi> ja zur </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1241/0103]
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nichts zu schaffen. Das Band zwischen ihr und der Sprache pvi_1241.002
kann ein engeres oder freieres sein; die deutsche Rhythmik entnimmt den pvi_1241.003
Unterschied der Stärke und Schwäche aus dieser, die antike that es pvi_1241.004
nicht; allein der Satz, daß die Rhythmik nur in der Sprache realisirt pvi_1241.005
werden kann, bedarf der Verstärkung durch die erstere Thatsache nicht, er pvi_1241.006
steht fest auch bei dem antiken Verhältniß, wogegen in der Musik, wenn pvi_1241.007
sie sich mit der Sprache verbindet, diese durchaus nicht die Bedeutung eines pvi_1241.008
Vehikels hat, dessen die bestimmende Kunstgattung bedarf, um zu existiren. pvi_1241.009
Die Füllung, die der Rhythmus durch seine Realisirung in der Sprache pvi_1241.010
erhält, bringt nun aber dennoch Elemente hinzu, welche näher oder entfernter pvi_1241.011
dem Musikalischen entsprechen. Den Sprachlauten ist nicht alle pvi_1241.012
Reminiscenz, daß sie ursprünglich das Gefühl des Gegenstands, des Tiefen, pvi_1241.013
Dunkeln, Dumpfen, Hohen, Hellen, Offenen, Herben, Sanften, Geschlossenen, pvi_1241.014
Freudigen, Schmerzlichen u. s. w. ausdrückten, verloren gegangen, pvi_1241.015
man mag dieß zunächst mit der Klangfarbe vergleichen; die Vocale sprechen pvi_1241.016
sich zudem an sich in bestimmten Unterschieden der Höhe und Tiefe aus und pvi_1241.017
eine neue Welt von Musik=ähnlichen Modificationen bringt (vom eigentlich pvi_1241.018
musikalischen Vortrag hier natürlich abgesehen) die Declamation hinzu: pvi_1241.019
Belebungen, die theils der Scala, theils jenem Unterschiede der Stärkung pvi_1241.020
oder Schwächung des einzelnen Tones angehören, der vom Takt-Accente pvi_1241.021
wohl zu unterscheiden ist, theils der Beschleunigung oder Hemmung im pvi_1241.022
Tempo entsprechen; die Wiederkehr des Verses endlich und besonders die pvi_1241.023
des symmetrischen Wechsels in der Strophe wird zwar nur successiv vernommen, pvi_1241.024
aber das innere Gehör faßt das Nacheinander doch wie in ein pvi_1241.025
gleichzeitiges Tönen zusammen und dadurch nähert sich der Eindruck entfernt pvi_1241.026
dem Gefühle der musikalischen Harmonie. Diese Anklänge an die Musik pvi_1241.027
verstärken sich, wo die Rhythmik sich mit dem Reime verbindet; doch hängt pvi_1241.028
damit Verlust auf der andern Seite zusammen, wie sich zeigen wird.
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§. 857.
pvi_1241.030
Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung pvi_1241.031
wie die Musik, sondern des zur bewußten Vorstellung entwickelten Jnhalts der pvi_1241.032
Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über diese Scheidung fortdauert pvi_1241.033
und seinen Ausdruck in der rhythmischen Form findet. Diese Seite ist pvi_1241.034
aber ebendaher darauf eingeschränkt, daß nicht das Ganze der Stimmung, pvi_1241.035
daher auch nicht ihr individueller Wechsel, sondern nur ihre allgemeine Gang- pvi_1241.036
Art in der gemessenen äußern Kunstform sich Gestalt geben kann. Denn obwohl pvi_1241.037
die gleichförmige Wiederkehr von dem einfachen Fortgang im Verse zum pvi_1241.038
geregelten Wechsel von zwei ungleichen Versen und weiter zu der symmetrischen pvi_1241.039
Zusammenstellung mehrerer verschiedener Verse in der Strophe, ja zur
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