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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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sachen. Woher sollte die Kirchenmusik -- und Musik
ist doch das Unentbehrlichste zum Kultus -- ihren
Text nehmen? -- Das weiter zu demonstriren, wäre
vom Ueberfluß. Kurz "Stützen", wie es Lessing
nennt.

Gegen --: Diese Stützen sind ebenso sehr Spieße
in's Mark der Religion. Der tiefstliegende Schaden
ist: sie dienen als Surrogate für's Wesen; die Men¬
schen, wie sie einmal in Mehrheit sind, meinen, sie
dürfen sich dafür, daß sie an das Pigment glauben,
die Religion ersparen. Da haben wir nun den
"Glauben", der = Religion gilt. Millionen Seelen,
die nie von einer Ahnung des Unendlichen, nie von
einem Gefühl der erhebenden Tragödie des Lebens
durchhaucht worden sind, gelten nun sich und der Welt
als religiös, weil sie glauben. Diese schnöde Ver¬
wechslung hat sich als allgemeines Vorurtheil fixirt,
mit Macht bekleidet, gefoltert, verbrannt, gekreuzigt,
gepfählt, lebendig geschunden, Gedärme aus dem Leib
gehaspelt, geblendet, verstümmelt, lebendig begraben,
erdolcht, gespießt, vergiftet, -- es gibt keine so wild¬
viehische und keine so teuflisch durchdachte Grausamkeit,
die nicht die gläubige Verfolgungswuth mit technischer
Vollendung ausgeübt hätte. Bekreuzt euch nicht davor,
stillgläubige Seelen! Das folgt haarscharf aus der
Verwechslung des Pigments mit dem Wesen! Bekreuzt
euch nicht, gebildete Konsistorien! Ihr verbrennt,

ſachen. Woher ſollte die Kirchenmuſik — und Muſik
iſt doch das Unentbehrlichſte zum Kultus — ihren
Text nehmen? — Das weiter zu demonſtriren, wäre
vom Ueberfluß. Kurz „Stützen“, wie es Leſſing
nennt.

Gegen —: Dieſe Stützen ſind ebenſo ſehr Spieße
in's Mark der Religion. Der tiefſtliegende Schaden
iſt: ſie dienen als Surrogate für's Weſen; die Men¬
ſchen, wie ſie einmal in Mehrheit ſind, meinen, ſie
dürfen ſich dafür, daß ſie an das Pigment glauben,
die Religion erſparen. Da haben wir nun den
„Glauben“, der = Religion gilt. Millionen Seelen,
die nie von einer Ahnung des Unendlichen, nie von
einem Gefühl der erhebenden Tragödie des Lebens
durchhaucht worden ſind, gelten nun ſich und der Welt
als religiös, weil ſie glauben. Dieſe ſchnöde Ver¬
wechslung hat ſich als allgemeines Vorurtheil fixirt,
mit Macht bekleidet, gefoltert, verbrannt, gekreuzigt,
gepfählt, lebendig geſchunden, Gedärme aus dem Leib
gehaſpelt, geblendet, verſtümmelt, lebendig begraben,
erdolcht, geſpießt, vergiftet, — es gibt keine ſo wild¬
viehiſche und keine ſo teufliſch durchdachte Grauſamkeit,
die nicht die gläubige Verfolgungswuth mit techniſcher
Vollendung ausgeübt hätte. Bekreuzt euch nicht davor,
ſtillgläubige Seelen! Das folgt haarſcharf aus der
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[398/0411] ſachen. Woher ſollte die Kirchenmuſik — und Muſik iſt doch das Unentbehrlichſte zum Kultus — ihren Text nehmen? — Das weiter zu demonſtriren, wäre vom Ueberfluß. Kurz „Stützen“, wie es Leſſing nennt. Gegen —: Dieſe Stützen ſind ebenſo ſehr Spieße in's Mark der Religion. Der tiefſtliegende Schaden iſt: ſie dienen als Surrogate für's Weſen; die Men¬ ſchen, wie ſie einmal in Mehrheit ſind, meinen, ſie dürfen ſich dafür, daß ſie an das Pigment glauben, die Religion erſparen. Da haben wir nun den „Glauben“, der = Religion gilt. Millionen Seelen, die nie von einer Ahnung des Unendlichen, nie von einem Gefühl der erhebenden Tragödie des Lebens durchhaucht worden ſind, gelten nun ſich und der Welt als religiös, weil ſie glauben. Dieſe ſchnöde Ver¬ wechslung hat ſich als allgemeines Vorurtheil fixirt, mit Macht bekleidet, gefoltert, verbrannt, gekreuzigt, gepfählt, lebendig geſchunden, Gedärme aus dem Leib gehaſpelt, geblendet, verſtümmelt, lebendig begraben, erdolcht, geſpießt, vergiftet, — es gibt keine ſo wild¬ viehiſche und keine ſo teufliſch durchdachte Grauſamkeit, die nicht die gläubige Verfolgungswuth mit techniſcher Vollendung ausgeübt hätte. Bekreuzt euch nicht davor, ſtillgläubige Seelen! Das folgt haarſcharf aus der Verwechslung des Pigments mit dem Weſen! Bekreuzt euch nicht, gebildete Konſiſtorien! Ihr verbrennt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/411>, abgerufen am 27.11.2024.