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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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was Phantasie ist, allmälig einen Anhang gesammelt
und denselben mehr und mehr erweitert hätten. Sie
haben Stein auf Stein in das stehende Wasser der
Meinung geworfen, bis die Wogenkreise den ganzen
Spiegel in Bewegung setzten. Wäre dieß nicht, so
stände heute noch Wieland, Iffland, ja gar Kotzebue
in der Blüte der öffentlichen Gunst, Goethe und
Schiller gälten für Phantasten. Man würde sich nur
größere Dosis von Schauer ausbitten, als die alten
Lieblinge boten, und in diesem Punkt eine Beimischung
aus den Ritter-Romanen vorziehen; Wieland müßte
noch stimulanter werden, als er schon ist. Nun, an
solchen Wielanden fehlt es uns ja nicht. Das merkt
sich jeder Elende, daß er seiner Wirkung sicher ist,
wenn er mit sexualen Reizen operirt, denn wie dick¬
häutig ein Leser sein mag, Geschlechtsnerven besitzt er
ja doch. Unsere Illustratoren schlagen ebenfalls hübsch
Münze aus diesem Umstand. -- Auch Humor will
man haben, aber wenn er kommt, der Wilde, erschrickt
man wie vor einem Geist. Er dürfte wild sein, aber
er soll zugleich zahm, anständig sein. Ja, Poeten
vor tausend oder etlichen hundert Jahren, die durften
im Humor auch den Cynismus wagen, das ist etwas
Anderes, wir aber, wir Menschen der "Jetztzeit", wir
sind gebildet, und nicht Wenige von uns gehören zur
"guten Gesellschaft"; zwar eine feine Zote, ja das ist
was Anderes, das zieht.

was Phantaſie iſt, allmälig einen Anhang geſammelt
und denſelben mehr und mehr erweitert hätten. Sie
haben Stein auf Stein in das ſtehende Waſſer der
Meinung geworfen, bis die Wogenkreiſe den ganzen
Spiegel in Bewegung ſetzten. Wäre dieß nicht, ſo
ſtände heute noch Wieland, Iffland, ja gar Kotzebue
in der Blüte der öffentlichen Gunſt, Goethe und
Schiller gälten für Phantaſten. Man würde ſich nur
größere Doſis von Schauer ausbitten, als die alten
Lieblinge boten, und in dieſem Punkt eine Beimiſchung
aus den Ritter-Romanen vorziehen; Wieland müßte
noch ſtimulanter werden, als er ſchon iſt. Nun, an
ſolchen Wielanden fehlt es uns ja nicht. Das merkt
ſich jeder Elende, daß er ſeiner Wirkung ſicher iſt,
wenn er mit ſexualen Reizen operirt, denn wie dick¬
häutig ein Leſer ſein mag, Geſchlechtsnerven beſitzt er
ja doch. Unſere Illuſtratoren ſchlagen ebenfalls hübſch
Münze aus dieſem Umſtand. — Auch Humor will
man haben, aber wenn er kommt, der Wilde, erſchrickt
man wie vor einem Geiſt. Er dürfte wild ſein, aber
er ſoll zugleich zahm, anſtändig ſein. Ja, Poeten
vor tauſend oder etlichen hundert Jahren, die durften
im Humor auch den Cynismus wagen, das iſt etwas
Anderes, wir aber, wir Menſchen der „Jetztzeit“, wir
ſind gebildet, und nicht Wenige von uns gehören zur
„guten Geſellſchaft“; zwar eine feine Zote, ja das iſt
was Anderes, das zieht.

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[361/0374] was Phantaſie iſt, allmälig einen Anhang geſammelt und denſelben mehr und mehr erweitert hätten. Sie haben Stein auf Stein in das ſtehende Waſſer der Meinung geworfen, bis die Wogenkreiſe den ganzen Spiegel in Bewegung ſetzten. Wäre dieß nicht, ſo ſtände heute noch Wieland, Iffland, ja gar Kotzebue in der Blüte der öffentlichen Gunſt, Goethe und Schiller gälten für Phantaſten. Man würde ſich nur größere Doſis von Schauer ausbitten, als die alten Lieblinge boten, und in dieſem Punkt eine Beimiſchung aus den Ritter-Romanen vorziehen; Wieland müßte noch ſtimulanter werden, als er ſchon iſt. Nun, an ſolchen Wielanden fehlt es uns ja nicht. Das merkt ſich jeder Elende, daß er ſeiner Wirkung ſicher iſt, wenn er mit ſexualen Reizen operirt, denn wie dick¬ häutig ein Leſer ſein mag, Geſchlechtsnerven beſitzt er ja doch. Unſere Illuſtratoren ſchlagen ebenfalls hübſch Münze aus dieſem Umſtand. — Auch Humor will man haben, aber wenn er kommt, der Wilde, erſchrickt man wie vor einem Geiſt. Er dürfte wild ſein, aber er ſoll zugleich zahm, anſtändig ſein. Ja, Poeten vor tauſend oder etlichen hundert Jahren, die durften im Humor auch den Cynismus wagen, das iſt etwas Anderes, wir aber, wir Menſchen der „Jetztzeit“, wir ſind gebildet, und nicht Wenige von uns gehören zur „guten Geſellſchaft“; zwar eine feine Zote, ja das iſt was Anderes, das zieht.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/374>, abgerufen am 22.11.2024.