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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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meist vergeblich jenes Etwas. Aber ganze Mannheit
fest, sonnenbraun, im Gegenwärtigen zu Haus und
Eins mit sich, keine Sehnsucht, eine zweite Antike.
-- Tizian doch auch oft sinnlich brünstiger, als
echte Kunst soll. Doch in der Verkündigung Mariä
zu Treviso und in der Assunta auch das hoch mystisch
"ewig Weibliche". Apostel unten auf der Assunta --
schon nah' an überreifer Kunst, wenigstens der eine mit
dem theatralisch gestellten rechten Bein; andere herrlich
-- nun mit voller Herrschaft über die Darstellungs¬
mittel jenes Nachschauen, das mich so in's Mark hinein
ergreift, Gefühl: die Welt ein Schattenthal ohne sie.


Stehe oft und gern Nachts auf einer der kleinen
Brücken, sehe hinab auf den dunkeln Kanal, da und
dort von Lichtschein überblitzt. Wenn dann eine Gondel
durchfährt, so ganz still, nur selten der Ruf: Sta li!
sonderbar, dann ist mir oft, als liege ich, der da oben
zusieht, zugleich todt in der Gondel, und der Todte
freue sich zugleich der stillen Nachtfahrt.


Hübsch -- neulich auf der Fahrt nach Treviso;
ein paar gebildete Venetianer im Wagen; auch ein
Abbate, vernünftiger, klarer Mensch, interessante Aus¬
nahme. Wagenfenster offen, auf dem Bocke sitzt ein

Vischer, Auch Einer. II. 22

meiſt vergeblich jenes Etwas. Aber ganze Mannheit
feſt, ſonnenbraun, im Gegenwärtigen zu Haus und
Eins mit ſich, keine Sehnſucht, eine zweite Antike.
— Tizian doch auch oft ſinnlich brünſtiger, als
echte Kunſt ſoll. Doch in der Verkündigung Mariä
zu Treviſo und in der Aſſunta auch das hoch myſtiſch
„ewig Weibliche“. Apoſtel unten auf der Aſſunta —
ſchon nah' an überreifer Kunſt, wenigſtens der eine mit
dem theatraliſch geſtellten rechten Bein; andere herrlich
— nun mit voller Herrſchaft über die Darſtellungs¬
mittel jenes Nachſchauen, das mich ſo in's Mark hinein
ergreift, Gefühl: die Welt ein Schattenthal ohne ſie.


Stehe oft und gern Nachts auf einer der kleinen
Brücken, ſehe hinab auf den dunkeln Kanal, da und
dort von Lichtſchein überblitzt. Wenn dann eine Gondel
durchfährt, ſo ganz ſtill, nur ſelten der Ruf: Sta li!
ſonderbar, dann iſt mir oft, als liege ich, der da oben
zuſieht, zugleich todt in der Gondel, und der Todte
freue ſich zugleich der ſtillen Nachtfahrt.


Hübſch — neulich auf der Fahrt nach Treviſo;
ein paar gebildete Venetianer im Wagen; auch ein
Abbate, vernünftiger, klarer Menſch, intereſſante Aus¬
nahme. Wagenfenſter offen, auf dem Bocke ſitzt ein

Viſcher, Auch Einer. II. 22
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[337/0350] meiſt vergeblich jenes Etwas. Aber ganze Mannheit feſt, ſonnenbraun, im Gegenwärtigen zu Haus und Eins mit ſich, keine Sehnſucht, eine zweite Antike. — Tizian doch auch oft ſinnlich brünſtiger, als echte Kunſt ſoll. Doch in der Verkündigung Mariä zu Treviſo und in der Aſſunta auch das hoch myſtiſch „ewig Weibliche“. Apoſtel unten auf der Aſſunta — ſchon nah' an überreifer Kunſt, wenigſtens der eine mit dem theatraliſch geſtellten rechten Bein; andere herrlich — nun mit voller Herrſchaft über die Darſtellungs¬ mittel jenes Nachſchauen, das mich ſo in's Mark hinein ergreift, Gefühl: die Welt ein Schattenthal ohne ſie. Stehe oft und gern Nachts auf einer der kleinen Brücken, ſehe hinab auf den dunkeln Kanal, da und dort von Lichtſchein überblitzt. Wenn dann eine Gondel durchfährt, ſo ganz ſtill, nur ſelten der Ruf: Sta li! ſonderbar, dann iſt mir oft, als liege ich, der da oben zuſieht, zugleich todt in der Gondel, und der Todte freue ſich zugleich der ſtillen Nachtfahrt. Hübſch — neulich auf der Fahrt nach Treviſo; ein paar gebildete Venetianer im Wagen; auch ein Abbate, vernünftiger, klarer Menſch, intereſſante Aus¬ nahme. Wagenfenſter offen, auf dem Bocke ſitzt ein Viſcher, Auch Einer. II. 22

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/350>, abgerufen am 23.11.2024.