Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Frauenaugen trifft, aber bei angelsächsischem Blute
nicht zu finden gewohnt ist. Die Lippen waren nicht
zurückgekniffen, wie man es bei Mann und Weib im
englischen Volke so häufig bemerkt und aus der Ge¬
wöhnung dieses Organs bei der Aussprache des W
sich leicht erklärt, sondern gesund, voll, blühend, ath¬
mend, umspielt von einem Zuge, der mir vor die Seele
führte, was der Edelmann im König Lear zu Herzog
Kent von Cordelia sagt und ihren "reifen" Lippen.
Schwer rieß ich mich von dem Anblick los, der mich
mehr und mehr gefangen nahm. Aber mein Reise¬
plan stand fest, ich mußte vorwärts, denn ich wollte
heute noch Amsteg erreichen, dort übernachten, morgen
den Gotthardpaß in seinen wilden Hauptstellen mit
Muße beschauen, etwa bis Andermatt gelangen und
von da die Rückreise antreten, denn meine Zeit war
kurz bemessen; Alles zu Fuß, um ganz unabhängig der
Betrachtung mich hingeben zu können. Mittag wollte
ich in Bürglen machen, im Schächenthal; ich hatte mir
den kleinen Abstecher vorgenommen, um doch auch ein¬
mal die Stätte zu sehen, wohin die Sage Tell's
Heimat verlegt und die durch Uhland's Gedicht über
seinen Tod gefeiert ist. Ich gieng rasch durch Flüelen,
nachdem ich noch gesehen hatte, wie die englische Fa¬
milie sich im ausgeworfenen Netz eines Heeres von
Kutschern verstrickte, wobei die steife ältere Dame die
Rolle der Dolmetscherin in den Unterhandlungen um

Frauenaugen trifft, aber bei angelſächſiſchem Blute
nicht zu finden gewohnt iſt. Die Lippen waren nicht
zurückgekniffen, wie man es bei Mann und Weib im
engliſchen Volke ſo häufig bemerkt und aus der Ge¬
wöhnung dieſes Organs bei der Ausſprache des W
ſich leicht erklärt, ſondern geſund, voll, blühend, ath¬
mend, umſpielt von einem Zuge, der mir vor die Seele
führte, was der Edelmann im König Lear zu Herzog
Kent von Cordelia ſagt und ihren „reifen“ Lippen.
Schwer rieß ich mich von dem Anblick los, der mich
mehr und mehr gefangen nahm. Aber mein Reiſe¬
plan ſtand feſt, ich mußte vorwärts, denn ich wollte
heute noch Amſteg erreichen, dort übernachten, morgen
den Gotthardpaß in ſeinen wilden Hauptſtellen mit
Muße beſchauen, etwa bis Andermatt gelangen und
von da die Rückreiſe antreten, denn meine Zeit war
kurz bemeſſen; Alles zu Fuß, um ganz unabhängig der
Betrachtung mich hingeben zu können. Mittag wollte
ich in Bürglen machen, im Schächenthal; ich hatte mir
den kleinen Abſtecher vorgenommen, um doch auch ein¬
mal die Stätte zu ſehen, wohin die Sage Tell's
Heimat verlegt und die durch Uhland's Gedicht über
ſeinen Tod gefeiert iſt. Ich gieng raſch durch Flüelen,
nachdem ich noch geſehen hatte, wie die engliſche Fa¬
milie ſich im ausgeworfenen Netz eines Heeres von
Kutſchern verſtrickte, wobei die ſteife ältere Dame die
Rolle der Dolmetſcherin in den Unterhandlungen um

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0069" n="56"/>
Frauenaugen trifft, aber bei angel&#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;chem Blute<lb/>
nicht zu finden gewohnt i&#x017F;t. Die Lippen waren nicht<lb/>
zurückgekniffen, wie man es bei Mann und Weib im<lb/>
engli&#x017F;chen Volke &#x017F;o häufig bemerkt und aus der Ge¬<lb/>
wöhnung die&#x017F;es Organs bei der Aus&#x017F;prache des <hi rendition="#aq">W</hi><lb/>
&#x017F;ich leicht erklärt, &#x017F;ondern ge&#x017F;und, voll, blühend, ath¬<lb/>
mend, um&#x017F;pielt von einem Zuge, der mir vor die Seele<lb/>
führte, was der Edelmann im König Lear zu Herzog<lb/>
Kent von Cordelia &#x017F;agt und ihren &#x201E;reifen&#x201C; Lippen.<lb/>
Schwer rieß ich mich von dem Anblick los, der mich<lb/>
mehr und mehr gefangen nahm. Aber mein Rei&#x017F;<lb/>
plan &#x017F;tand fe&#x017F;t, ich mußte vorwärts, denn ich wollte<lb/>
heute noch Am&#x017F;teg erreichen, dort übernachten, morgen<lb/>
den Gotthardpaß in &#x017F;einen wilden Haupt&#x017F;tellen mit<lb/>
Muße be&#x017F;chauen, etwa bis Andermatt gelangen und<lb/>
von da die Rückrei&#x017F;e antreten, denn meine Zeit war<lb/>
kurz beme&#x017F;&#x017F;en; Alles zu Fuß, um ganz unabhängig der<lb/>
Betrachtung mich hingeben zu können. Mittag wollte<lb/>
ich in Bürglen machen, im Schächenthal; ich hatte mir<lb/>
den kleinen Ab&#x017F;techer vorgenommen, um doch auch ein¬<lb/>
mal die Stätte zu &#x017F;ehen, wohin die Sage Tell's<lb/>
Heimat verlegt und die durch Uhland's Gedicht über<lb/>
&#x017F;einen Tod gefeiert i&#x017F;t. Ich gieng ra&#x017F;ch durch Flüelen,<lb/>
nachdem ich noch ge&#x017F;ehen hatte, wie die engli&#x017F;che Fa¬<lb/>
milie &#x017F;ich im ausgeworfenen Netz eines Heeres von<lb/>
Kut&#x017F;chern ver&#x017F;trickte, wobei die &#x017F;teife ältere Dame die<lb/>
Rolle der Dolmet&#x017F;cherin in den Unterhandlungen um<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0069] Frauenaugen trifft, aber bei angelſächſiſchem Blute nicht zu finden gewohnt iſt. Die Lippen waren nicht zurückgekniffen, wie man es bei Mann und Weib im engliſchen Volke ſo häufig bemerkt und aus der Ge¬ wöhnung dieſes Organs bei der Ausſprache des W ſich leicht erklärt, ſondern geſund, voll, blühend, ath¬ mend, umſpielt von einem Zuge, der mir vor die Seele führte, was der Edelmann im König Lear zu Herzog Kent von Cordelia ſagt und ihren „reifen“ Lippen. Schwer rieß ich mich von dem Anblick los, der mich mehr und mehr gefangen nahm. Aber mein Reiſe¬ plan ſtand feſt, ich mußte vorwärts, denn ich wollte heute noch Amſteg erreichen, dort übernachten, morgen den Gotthardpaß in ſeinen wilden Hauptſtellen mit Muße beſchauen, etwa bis Andermatt gelangen und von da die Rückreiſe antreten, denn meine Zeit war kurz bemeſſen; Alles zu Fuß, um ganz unabhängig der Betrachtung mich hingeben zu können. Mittag wollte ich in Bürglen machen, im Schächenthal; ich hatte mir den kleinen Abſtecher vorgenommen, um doch auch ein¬ mal die Stätte zu ſehen, wohin die Sage Tell's Heimat verlegt und die durch Uhland's Gedicht über ſeinen Tod gefeiert iſt. Ich gieng raſch durch Flüelen, nachdem ich noch geſehen hatte, wie die engliſche Fa¬ milie ſich im ausgeworfenen Netz eines Heeres von Kutſchern verſtrickte, wobei die ſteife ältere Dame die Rolle der Dolmetſcherin in den Unterhandlungen um

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/69
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/69>, abgerufen am 20.05.2024.