Ein ganz leichtes Zucken lief hier über seine Züge, so schwach und so blitzschnell, daß ich schlechtweg keine Zeit fand, einen deutlichen Schluß darauf zu gründen.
Er fuhr fort: "Nun aber macht die Exekution den armen Heros so wüthend, daß er mit der Kraft der Verzweiflung sich losreißt und trotz dem Sturm in's Wasser springt. In höchster Spannung erwartet der Zuschauer, ob es ihm gelingen wird, sich zu retten. Der Dichter darf es annehmen; Tell kann gut schwim¬ men und eine flache Uferstelle erreichen. Darnach ist nun in der ersten Szene des vierten Akts die Erzäh¬ lung abzuändern, worin Tell dem Fischer seine Rettung berichtet. Folgen die Auftritte wie bei Schiller, auch der Monolog in der hohlen Gasse und das Weitere bis zu den Worten: ,Ein neu Gesetz will ich dem Lande geben, ich will --'; hier unterbricht sich Geßler, aber nicht mit den Worten: ,Gott sei mir gnädig,' denn ihn hat kein Pfeil getroffen; vielmehr hört man nur eine Bogensehne schwirren, gleichzeitig ein unge¬ mein starkes Niesen in einem Busch und die Worte: ,Verfluchter Zufall, List und Trug der Hölle!' Dieß kann nicht mißverstanden werden. Tell hat sich ja natürlich verkältet und verniest seinen Schuß; Geßler ruft: ,Das ist das Niesen Tell's, verfolget ihn.' Allein Tell hat noch Zeit, sich aus dem Staube zu machen. Nun muß ich Ihnen eine Notiz mittheilen. Ich habe vor ein paar Jahren in Wien auf dem Schild
Vischer, Auch Einer. I. 4
Ein ganz leichtes Zucken lief hier über ſeine Züge, ſo ſchwach und ſo blitzſchnell, daß ich ſchlechtweg keine Zeit fand, einen deutlichen Schluß darauf zu gründen.
Er fuhr fort: „Nun aber macht die Exekution den armen Heros ſo wüthend, daß er mit der Kraft der Verzweiflung ſich losreißt und trotz dem Sturm in's Waſſer ſpringt. In höchſter Spannung erwartet der Zuſchauer, ob es ihm gelingen wird, ſich zu retten. Der Dichter darf es annehmen; Tell kann gut ſchwim¬ men und eine flache Uferſtelle erreichen. Darnach iſt nun in der erſten Szene des vierten Akts die Erzäh¬ lung abzuändern, worin Tell dem Fiſcher ſeine Rettung berichtet. Folgen die Auftritte wie bei Schiller, auch der Monolog in der hohlen Gaſſe und das Weitere bis zu den Worten: ‚Ein neu Geſetz will ich dem Lande geben, ich will —‘; hier unterbricht ſich Geßler, aber nicht mit den Worten: ‚Gott ſei mir gnädig,‘ denn ihn hat kein Pfeil getroffen; vielmehr hört man nur eine Bogenſehne ſchwirren, gleichzeitig ein unge¬ mein ſtarkes Nieſen in einem Buſch und die Worte: ‚Verfluchter Zufall, Liſt und Trug der Hölle!‘ Dieß kann nicht mißverſtanden werden. Tell hat ſich ja natürlich verkältet und verniest ſeinen Schuß; Geßler ruft: ‚Das iſt das Nieſen Tell's, verfolget ihn.‘ Allein Tell hat noch Zeit, ſich aus dem Staube zu machen. Nun muß ich Ihnen eine Notiz mittheilen. Ich habe vor ein paar Jahren in Wien auf dem Schild
Viſcher, Auch Einer. I. 4
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Ein ganz leichtes Zucken lief hier über ſeine Züge,
ſo ſchwach und ſo blitzſchnell, daß ich ſchlechtweg keine
Zeit fand, einen deutlichen Schluß darauf zu gründen.
Er fuhr fort: „Nun aber macht die Exekution den
armen Heros ſo wüthend, daß er mit der Kraft der
Verzweiflung ſich losreißt und trotz dem Sturm in's
Waſſer ſpringt. In höchſter Spannung erwartet der
Zuſchauer, ob es ihm gelingen wird, ſich zu retten.
Der Dichter darf es annehmen; Tell kann gut ſchwim¬
men und eine flache Uferſtelle erreichen. Darnach iſt
nun in der erſten Szene des vierten Akts die Erzäh¬
lung abzuändern, worin Tell dem Fiſcher ſeine Rettung
berichtet. Folgen die Auftritte wie bei Schiller, auch
der Monolog in der hohlen Gaſſe und das Weitere
bis zu den Worten: ‚Ein neu Geſetz will ich dem
Lande geben, ich will —‘; hier unterbricht ſich Geßler,
aber nicht mit den Worten: ‚Gott ſei mir gnädig,‘
denn ihn hat kein Pfeil getroffen; vielmehr hört man
nur eine Bogenſehne ſchwirren, gleichzeitig ein unge¬
mein ſtarkes Nieſen in einem Buſch und die Worte:
‚Verfluchter Zufall, Liſt und Trug der Hölle!‘ Dieß
kann nicht mißverſtanden werden. Tell hat ſich ja
natürlich verkältet und verniest ſeinen Schuß; Geßler
ruft: ‚Das iſt das Nieſen Tell's, verfolget ihn.‘
Allein Tell hat noch Zeit, ſich aus dem Staube zu
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Viſcher, Auch Einer. I. 4
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/62>, abgerufen am 04.12.2024.
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