Wir waren inzwischen an der Stelle angekommen, wo man zur Tellsplatte hinabsteigt, ich machte ihn aufmerksam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir standen bei der Kapelle und sahen uns das Felsriff an.
"So? Ist das da das, wo der Schiller die dumme Komödie drüber geschrieben hat?"
"Aber, bitte, Sie haben doch vorgestern den fri¬ volen Spötter im Omnibus --"
"Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren Werth der Sage mitverhöhnt -- das Moralische ver¬ steht sich doch immer von selbst, da soll mir Keiner den Schiller antasten, aber wenn man's als Geschichte vorstellt -- als ob's geschehen wäre -- geschehen könnte -- und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum allein Tragischen zu wenden, weiß nicht, was die bösen Geister treiben, in Wirklichkeit hindern, was sie gegen das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬ auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre, darauf, auf den Grund der Wahrheit!"
"Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬ heit?"
"Nun, das sollte doch klar sein! Was anders, als daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm Tell sei aus dem Schiff auf die Platte gesprungen, man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬ rutschte und in's Wasser plumpte. Und nachher vol¬ lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬
Wir waren inzwiſchen an der Stelle angekommen, wo man zur Tellsplatte hinabſteigt, ich machte ihn aufmerkſam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir ſtanden bei der Kapelle und ſahen uns das Felsriff an.
„So? Iſt das da das, wo der Schiller die dumme Komödie drüber geſchrieben hat?“
„Aber, bitte, Sie haben doch vorgeſtern den fri¬ volen Spötter im Omnibus —“
„Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren Werth der Sage mitverhöhnt — das Moraliſche ver¬ ſteht ſich doch immer von ſelbſt, da ſoll mir Keiner den Schiller antaſten, aber wenn man's als Geſchichte vorſtellt — als ob's geſchehen wäre — geſchehen könnte — und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum allein Tragiſchen zu wenden, weiß nicht, was die böſen Geiſter treiben, in Wirklichkeit hindern, was ſie gegen das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬ auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre, darauf, auf den Grund der Wahrheit!“
„Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬ heit?“
„Nun, das ſollte doch klar ſein! Was anders, als daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm Tell ſei aus dem Schiff auf die Platte geſprungen, man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬ rutſchte und in's Waſſer plumpte. Und nachher vol¬ lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬
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Wir waren inzwiſchen an der Stelle angekommen,
wo man zur Tellsplatte hinabſteigt, ich machte ihn
aufmerkſam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir
ſtanden bei der Kapelle und ſahen uns das Felsriff an.
„So? Iſt das da das, wo der Schiller die dumme
Komödie drüber geſchrieben hat?“
„Aber, bitte, Sie haben doch vorgeſtern den fri¬
volen Spötter im Omnibus —“
„Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren
Werth der Sage mitverhöhnt — das Moraliſche ver¬
ſteht ſich doch immer von ſelbſt, da ſoll mir Keiner
den Schiller antaſten, aber wenn man's als Geſchichte
vorſtellt — als ob's geſchehen wäre — geſchehen
könnte — und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum
allein Tragiſchen zu wenden, weiß nicht, was die böſen
Geiſter treiben, in Wirklichkeit hindern, was ſie gegen
das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬
auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre,
darauf, auf den Grund der Wahrheit!“
„Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬
heit?“
„Nun, das ſollte doch klar ſein! Was anders, als
daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm
Tell ſei aus dem Schiff auf die Platte geſprungen,
man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬
rutſchte und in's Waſſer plumpte. Und nachher vol¬
lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/59>, abgerufen am 04.12.2024.
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