Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Wir waren inzwischen an der Stelle angekommen,
wo man zur Tellsplatte hinabsteigt, ich machte ihn
aufmerksam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir
standen bei der Kapelle und sahen uns das Felsriff an.

"So? Ist das da das, wo der Schiller die dumme
Komödie drüber geschrieben hat?"

"Aber, bitte, Sie haben doch vorgestern den fri¬
volen Spötter im Omnibus --"

"Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren
Werth der Sage mitverhöhnt -- das Moralische ver¬
steht sich doch immer von selbst, da soll mir Keiner
den Schiller antasten, aber wenn man's als Geschichte
vorstellt -- als ob's geschehen wäre -- geschehen
könnte -- und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum
allein Tragischen zu wenden, weiß nicht, was die bösen
Geister treiben, in Wirklichkeit hindern, was sie gegen
das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬
auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre,
darauf, auf den Grund der Wahrheit!"

"Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬
heit?"

"Nun, das sollte doch klar sein! Was anders, als
daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm
Tell sei aus dem Schiff auf die Platte gesprungen,
man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬
rutschte und in's Wasser plumpte. Und nachher vol¬
lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬

Wir waren inzwiſchen an der Stelle angekommen,
wo man zur Tellsplatte hinabſteigt, ich machte ihn
aufmerkſam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir
ſtanden bei der Kapelle und ſahen uns das Felsriff an.

„So? Iſt das da das, wo der Schiller die dumme
Komödie drüber geſchrieben hat?“

„Aber, bitte, Sie haben doch vorgeſtern den fri¬
volen Spötter im Omnibus —“

„Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren
Werth der Sage mitverhöhnt — das Moraliſche ver¬
ſteht ſich doch immer von ſelbſt, da ſoll mir Keiner
den Schiller antaſten, aber wenn man's als Geſchichte
vorſtellt — als ob's geſchehen wäre — geſchehen
könnte — und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum
allein Tragiſchen zu wenden, weiß nicht, was die böſen
Geiſter treiben, in Wirklichkeit hindern, was ſie gegen
das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬
auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre,
darauf, auf den Grund der Wahrheit!“

„Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬
heit?“

„Nun, das ſollte doch klar ſein! Was anders, als
daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm
Tell ſei aus dem Schiff auf die Platte geſprungen,
man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬
rutſchte und in's Waſſer plumpte. Und nachher vol¬
lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0059" n="46"/>
        <p>Wir waren inzwi&#x017F;chen an der Stelle angekommen,<lb/>
wo man zur Tellsplatte hinab&#x017F;teigt, ich machte ihn<lb/>
aufmerk&#x017F;am und führte ihn die Stufen hinunter. Wir<lb/>
&#x017F;tanden bei der Kapelle und &#x017F;ahen uns das Felsriff an.</p><lb/>
        <p>&#x201E;So? I&#x017F;t das da das, wo der Schiller die dumme<lb/>
Komödie drüber ge&#x017F;chrieben hat?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber, bitte, Sie haben doch vorge&#x017F;tern den fri¬<lb/>
volen Spötter im Omnibus &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren<lb/>
Werth der Sage mitverhöhnt &#x2014; das Morali&#x017F;che ver¬<lb/>
&#x017F;teht &#x017F;ich doch immer von &#x017F;elb&#x017F;t, da &#x017F;oll mir Keiner<lb/>
den Schiller anta&#x017F;ten, aber wenn man's als Ge&#x017F;chichte<lb/>
vor&#x017F;tellt &#x2014; als ob's ge&#x017F;chehen wäre &#x2014; ge&#x017F;chehen<lb/>
könnte &#x2014; und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum<lb/>
allein Tragi&#x017F;chen zu wenden, weiß nicht, was die bö&#x017F;en<lb/>
Gei&#x017F;ter treiben, in Wirklichkeit hindern, was &#x017F;ie gegen<lb/>
das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬<lb/>
auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre,<lb/>
darauf, auf den Grund der Wahrheit!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬<lb/>
heit?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nun, das &#x017F;ollte doch klar &#x017F;ein! Was anders, als<lb/>
daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm<lb/>
Tell &#x017F;ei aus dem Schiff auf die Platte ge&#x017F;prungen,<lb/>
man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬<lb/>
rut&#x017F;chte und in's Wa&#x017F;&#x017F;er plumpte. Und nachher vol¬<lb/>
lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0059] Wir waren inzwiſchen an der Stelle angekommen, wo man zur Tellsplatte hinabſteigt, ich machte ihn aufmerkſam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir ſtanden bei der Kapelle und ſahen uns das Felsriff an. „So? Iſt das da das, wo der Schiller die dumme Komödie drüber geſchrieben hat?“ „Aber, bitte, Sie haben doch vorgeſtern den fri¬ volen Spötter im Omnibus —“ „Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren Werth der Sage mitverhöhnt — das Moraliſche ver¬ ſteht ſich doch immer von ſelbſt, da ſoll mir Keiner den Schiller antaſten, aber wenn man's als Geſchichte vorſtellt — als ob's geſchehen wäre — geſchehen könnte — und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum allein Tragiſchen zu wenden, weiß nicht, was die böſen Geiſter treiben, in Wirklichkeit hindern, was ſie gegen das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬ auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre, darauf, auf den Grund der Wahrheit!“ „Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬ heit?“ „Nun, das ſollte doch klar ſein! Was anders, als daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm Tell ſei aus dem Schiff auf die Platte geſprungen, man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬ rutſchte und in's Waſſer plumpte. Und nachher vol¬ lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/59
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/59>, abgerufen am 04.12.2024.