merksam. Der brave Kent lange nach scharfem Ritt in Cornwall's Schloß an, überreiche den Brief von Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan nach Gloster's Schloß zu folgen, und zwar Nachts, erhitze sich hierauf wieder sehr stark in der herrlichen Schimpf- und Prügelßene mit Oswald, werde dann von Cornwall in den Block gespannt, liege nun da, die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde, schlafe sogar in dieser Lage und -- kriege bei solcher Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber sehr geistlos, zu meinen, dieß stehe in keinem Zusammen¬ hang mit dem sittlichen Gehalte der Tragödie. Dieser Kent, dieses wackere, herzstärkende Mannesbild, vergelte seines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Diener¬ treue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde für ihn beleidigt, schmählich bestraft, aber das größte, das erhabenste aller Opfer, daß er für ihn einen Schnupfen, einen Katarrh auf sich nehme: das sei ver¬ gessen, dieses Prachtmotiv nicht entwickelt. Von da an sprang er zu der Skulptur über. Auch hier äußerte er sich leidenschaftlich gegen das, was er fal¬ schen Idealismus nannte, um das Prädikat des wahren Idealismus dem entsetzlichen Naturalismus vorzubehalten, den er predigte, von dem er sich aber vorstellte, daß er mit allen hohen Zügen des klassischen, hohen Styls vereinbar sei. So rief er unter An¬ derem aus: "Da stellen uns die Zuckerlecker die drei
merkſam. Der brave Kent lange nach ſcharfem Ritt in Cornwall's Schloß an, überreiche den Brief von Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan nach Gloſter's Schloß zu folgen, und zwar Nachts, erhitze ſich hierauf wieder ſehr ſtark in der herrlichen Schimpf- und Prügelſzene mit Oswald, werde dann von Cornwall in den Block geſpannt, liege nun da, die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde, ſchlafe ſogar in dieſer Lage und — kriege bei ſolcher Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber ſehr geiſtlos, zu meinen, dieß ſtehe in keinem Zuſammen¬ hang mit dem ſittlichen Gehalte der Tragödie. Dieſer Kent, dieſes wackere, herzſtärkende Mannesbild, vergelte ſeines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Diener¬ treue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde für ihn beleidigt, ſchmählich beſtraft, aber das größte, das erhabenſte aller Opfer, daß er für ihn einen Schnupfen, einen Katarrh auf ſich nehme: das ſei ver¬ geſſen, dieſes Prachtmotiv nicht entwickelt. Von da an ſprang er zu der Skulptur über. Auch hier äußerte er ſich leidenſchaftlich gegen das, was er fal¬ ſchen Idealismus nannte, um das Prädikat des wahren Idealismus dem entſetzlichen Naturalismus vorzubehalten, den er predigte, von dem er ſich aber vorſtellte, daß er mit allen hohen Zügen des klaſſiſchen, hohen Styls vereinbar ſei. So rief er unter An¬ derem aus: „Da ſtellen uns die Zuckerlecker die drei
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0113"n="100"/>
merkſam. Der brave Kent lange nach ſcharfem Ritt<lb/>
in Cornwall's Schloß an, überreiche den Brief von<lb/>
Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan<lb/>
nach Gloſter's Schloß zu folgen, und zwar Nachts,<lb/>
erhitze ſich hierauf wieder ſehr ſtark in der herrlichen<lb/>
Schimpf- und Prügelſzene mit Oswald, werde dann<lb/>
von Cornwall in den Block geſpannt, liege nun da,<lb/>
die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde,<lb/>ſchlafe ſogar in dieſer Lage und — kriege bei ſolcher<lb/>
Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber ſehr<lb/>
geiſtlos, zu meinen, dieß ſtehe in keinem Zuſammen¬<lb/>
hang mit dem ſittlichen Gehalte der Tragödie. Dieſer<lb/>
Kent, dieſes wackere, herzſtärkende Mannesbild, vergelte<lb/>ſeines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Diener¬<lb/>
treue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde<lb/>
für ihn beleidigt, ſchmählich beſtraft, aber das größte,<lb/>
das erhabenſte aller Opfer, daß er für ihn einen<lb/>
Schnupfen, einen Katarrh auf ſich nehme: das ſei ver¬<lb/>
geſſen, dieſes Prachtmotiv nicht entwickelt. Von da<lb/>
an ſprang er zu der Skulptur über. Auch hier<lb/>
äußerte er ſich leidenſchaftlich gegen das, was er fal¬<lb/>ſchen Idealismus nannte, um das Prädikat des<lb/>
wahren Idealismus dem entſetzlichen Naturalismus<lb/>
vorzubehalten, den er predigte, von dem er ſich aber<lb/>
vorſtellte, daß er mit allen hohen Zügen des klaſſiſchen,<lb/>
hohen Styls vereinbar ſei. So rief er unter An¬<lb/>
derem aus: „Da ſtellen uns die Zuckerlecker die drei<lb/></p></div></body></text></TEI>
[100/0113]
merkſam. Der brave Kent lange nach ſcharfem Ritt
in Cornwall's Schloß an, überreiche den Brief von
Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan
nach Gloſter's Schloß zu folgen, und zwar Nachts,
erhitze ſich hierauf wieder ſehr ſtark in der herrlichen
Schimpf- und Prügelſzene mit Oswald, werde dann
von Cornwall in den Block geſpannt, liege nun da,
die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde,
ſchlafe ſogar in dieſer Lage und — kriege bei ſolcher
Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber ſehr
geiſtlos, zu meinen, dieß ſtehe in keinem Zuſammen¬
hang mit dem ſittlichen Gehalte der Tragödie. Dieſer
Kent, dieſes wackere, herzſtärkende Mannesbild, vergelte
ſeines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Diener¬
treue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde
für ihn beleidigt, ſchmählich beſtraft, aber das größte,
das erhabenſte aller Opfer, daß er für ihn einen
Schnupfen, einen Katarrh auf ſich nehme: das ſei ver¬
geſſen, dieſes Prachtmotiv nicht entwickelt. Von da
an ſprang er zu der Skulptur über. Auch hier
äußerte er ſich leidenſchaftlich gegen das, was er fal¬
ſchen Idealismus nannte, um das Prädikat des
wahren Idealismus dem entſetzlichen Naturalismus
vorzubehalten, den er predigte, von dem er ſich aber
vorſtellte, daß er mit allen hohen Zügen des klaſſiſchen,
hohen Styls vereinbar ſei. So rief er unter An¬
derem aus: „Da ſtellen uns die Zuckerlecker die drei
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/113>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.