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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Prosa diese Schöpfungen angeeignet, so werden sie allmälig auch verbraucht
und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abge-
schliffenen Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas
zu schauen. Diese Abnützung ist von furchtbarer Stärke. Man bedenke
nur, daß ja die Sprache ursprünglich keine unsinnliche Bezeichnung hatte,
daß ein Wort um das andere seine sinnliche Bedeutung in eine geistige
verwandeln mußte, gegen deren schöne metaphorische Bedeutung man mit
der Zeit stumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geschah, so
wiederholt es sich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird
vermehrt durch eine höchst tadelnswerthe Verschwendung, welche ohne Noth
Bezeichnungen voll organisch anschaulicher Kraft für das Gewöhnlichste
ausgibt. Wie schön ist das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen
es, wo Werden, Wachsen, sich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend
wäre! Wie treffend ist Hegel's: "von Haus aus" und wie hat man es
für alles und jedes Anfängliche verschwendet! Im ausdrücklich Bildlichen
kommt dazu, daß so manche schlagende Vergleichung im ernsten Sinn un-
brauchbar wird, weil sie zu häufig komisch verwendet worden und die blöde,
frivole, stumpfe Messe nicht fähig ist, den Vergleichungspunct fest im Auge
zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzusehen. Wir könnten keinen
Helden mehr mit einem Eber, Esel vergleichen wie Homer, das Nibelungen-
lied, das A. Test., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen.
Shakespeare durfte ein sehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und
kein Lachen gebildeter Weinreisender befürchten, die wohl meinen, er habe
nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich ist. Die Stärke und
Raschheit der Abnützung fordert allerdings stets auf's Neue die Zeugungs-
kraft der Poesie heraus, führt aber zugleich die Versuchung mit sich, daß
der sprachliche Ausdruck sich überhitze, übersteigere, um ja der stark und
weit angewachsenen Prosa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze,
den der zweite Theil des §. aufstellt.

2. Das Ganze der poetischen Schöpfung und die einzelnen Mittel der-
selben im sprachlichen Ausdrucke sind streng zu unterscheiden. Jenes muß
ursprünglich so empfangen sein, daß die Idee nicht anders, denn als lebendige
Gestalt vor dem Innern des Dichters steht, und daraus ergeben sich ihm
die Mittel, wodurch er sein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer
Nothwendigkeit; diese Nothwendigkeit mag ihm selbst verborgen sein, er mag
im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, sie leitet ihn dennoch als Gesetz
und die Bemühung um das Einzelne ist daher nicht, wie es scheint, ein
besonderer, zweiter Act seines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf
die einzelnen Schönheiten legt, als bestünden sie für sich, erregt daher bei
Allen, die um das wahre Wesen der Dichtkunst wissen, den Verdacht, daß
es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen

Proſa dieſe Schöpfungen angeeignet, ſo werden ſie allmälig auch verbraucht
und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abge-
ſchliffenen Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas
zu ſchauen. Dieſe Abnützung iſt von furchtbarer Stärke. Man bedenke
nur, daß ja die Sprache urſprünglich keine unſinnliche Bezeichnung hatte,
daß ein Wort um das andere ſeine ſinnliche Bedeutung in eine geiſtige
verwandeln mußte, gegen deren ſchöne metaphoriſche Bedeutung man mit
der Zeit ſtumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geſchah, ſo
wiederholt es ſich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird
vermehrt durch eine höchſt tadelnswerthe Verſchwendung, welche ohne Noth
Bezeichnungen voll organiſch anſchaulicher Kraft für das Gewöhnlichſte
ausgibt. Wie ſchön iſt das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen
es, wo Werden, Wachſen, ſich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend
wäre! Wie treffend iſt Hegel’s: „von Haus aus“ und wie hat man es
für alles und jedes Anfängliche verſchwendet! Im ausdrücklich Bildlichen
kommt dazu, daß ſo manche ſchlagende Vergleichung im ernſten Sinn un-
brauchbar wird, weil ſie zu häufig komiſch verwendet worden und die blöde,
frivole, ſtumpfe Meſſe nicht fähig iſt, den Vergleichungspunct feſt im Auge
zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzuſehen. Wir könnten keinen
Helden mehr mit einem Eber, Eſel vergleichen wie Homer, das Nibelungen-
lied, das A. Teſt., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen.
Shakespeare durfte ein ſehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und
kein Lachen gebildeter Weinreiſender befürchten, die wohl meinen, er habe
nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich iſt. Die Stärke und
Raſchheit der Abnützung fordert allerdings ſtets auf’s Neue die Zeugungs-
kraft der Poeſie heraus, führt aber zugleich die Verſuchung mit ſich, daß
der ſprachliche Ausdruck ſich überhitze, überſteigere, um ja der ſtark und
weit angewachſenen Proſa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze,
den der zweite Theil des §. aufſtellt.

2. Das Ganze der poetiſchen Schöpfung und die einzelnen Mittel der-
ſelben im ſprachlichen Ausdrucke ſind ſtreng zu unterſcheiden. Jenes muß
urſprünglich ſo empfangen ſein, daß die Idee nicht anders, denn als lebendige
Geſtalt vor dem Innern des Dichters ſteht, und daraus ergeben ſich ihm
die Mittel, wodurch er ſein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer
Nothwendigkeit; dieſe Nothwendigkeit mag ihm ſelbſt verborgen ſein, er mag
im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, ſie leitet ihn dennoch als Geſetz
und die Bemühung um das Einzelne iſt daher nicht, wie es ſcheint, ein
beſonderer, zweiter Act ſeines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf
die einzelnen Schönheiten legt, als beſtünden ſie für ſich, erregt daher bei
Allen, die um das wahre Weſen der Dichtkunſt wiſſen, den Verdacht, daß
es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen

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[1217/0081] Proſa dieſe Schöpfungen angeeignet, ſo werden ſie allmälig auch verbraucht und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abge- ſchliffenen Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas zu ſchauen. Dieſe Abnützung iſt von furchtbarer Stärke. Man bedenke nur, daß ja die Sprache urſprünglich keine unſinnliche Bezeichnung hatte, daß ein Wort um das andere ſeine ſinnliche Bedeutung in eine geiſtige verwandeln mußte, gegen deren ſchöne metaphoriſche Bedeutung man mit der Zeit ſtumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geſchah, ſo wiederholt es ſich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird vermehrt durch eine höchſt tadelnswerthe Verſchwendung, welche ohne Noth Bezeichnungen voll organiſch anſchaulicher Kraft für das Gewöhnlichſte ausgibt. Wie ſchön iſt das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen es, wo Werden, Wachſen, ſich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend wäre! Wie treffend iſt Hegel’s: „von Haus aus“ und wie hat man es für alles und jedes Anfängliche verſchwendet! Im ausdrücklich Bildlichen kommt dazu, daß ſo manche ſchlagende Vergleichung im ernſten Sinn un- brauchbar wird, weil ſie zu häufig komiſch verwendet worden und die blöde, frivole, ſtumpfe Meſſe nicht fähig iſt, den Vergleichungspunct feſt im Auge zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzuſehen. Wir könnten keinen Helden mehr mit einem Eber, Eſel vergleichen wie Homer, das Nibelungen- lied, das A. Teſt., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen. Shakespeare durfte ein ſehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und kein Lachen gebildeter Weinreiſender befürchten, die wohl meinen, er habe nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich iſt. Die Stärke und Raſchheit der Abnützung fordert allerdings ſtets auf’s Neue die Zeugungs- kraft der Poeſie heraus, führt aber zugleich die Verſuchung mit ſich, daß der ſprachliche Ausdruck ſich überhitze, überſteigere, um ja der ſtark und weit angewachſenen Proſa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze, den der zweite Theil des §. aufſtellt. 2. Das Ganze der poetiſchen Schöpfung und die einzelnen Mittel der- ſelben im ſprachlichen Ausdrucke ſind ſtreng zu unterſcheiden. Jenes muß urſprünglich ſo empfangen ſein, daß die Idee nicht anders, denn als lebendige Geſtalt vor dem Innern des Dichters ſteht, und daraus ergeben ſich ihm die Mittel, wodurch er ſein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer Nothwendigkeit; dieſe Nothwendigkeit mag ihm ſelbſt verborgen ſein, er mag im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, ſie leitet ihn dennoch als Geſetz und die Bemühung um das Einzelne iſt daher nicht, wie es ſcheint, ein beſonderer, zweiter Act ſeines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf die einzelnen Schönheiten legt, als beſtünden ſie für ſich, erregt daher bei Allen, die um das wahre Weſen der Dichtkunſt wiſſen, den Verdacht, daß es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/81>, abgerufen am 22.11.2024.