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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Geschichte, als auch die Poesie, jede das Allgemeine und jede das Einzelne
hat, aber jede das letztere in anderem Sinn und daher auch das erstere
in anderem Verhältniß dazu. Die Geschichte nämlich, da es ihr um den Stoff
als solchen zu thun ist, nimmt alle die Trübungen des Einzelnen, also des
Bandes zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen auf, welche im Naturschönen
der störende Zufall mit sich bringt, sie versöhnt mit ihnen durch den weiten
Blick über die Zeiten und Ereignisse, die Poesie aber vollbringt die Ver-
söhnung hier, auf diesem Puncte, indem sie dieselben ausscheidet. Ebenso
verschieden sind sie im Umfang der Aufnahme des Einzelnen. Der Ge-
schichtschreiber nimmt nur gelegentlich solche Züge auf, welche den Gegen-
stand der innern Anschauung greiflich vergegenwärtigen, der Dichter grund-
sätzlich und überall; auf der andern Seite führt jener eine Masse causaler
Vermittlungen ein, welche den Individuen den schönen Schein der freien
Bewegung entziehen und sie insbesondere in der Zeit mechanisirter Staats-
formen in die Schnüre des Vorgeschriebenen, Canzlei- und Ordonnanzmäßigen
einspannen, der Dichter stößt sie aus und sein Augenmerk ist, dem Menschen
seine freie Lebendigkeit zu erhalten. (Vergl. hierüber auch Hegel, Aesthetik.
Th. 3, S. 256 ff.) Dieß führt auf den Unterschied im Stoffe: die Ge-
schichte umfaßt Alles, die Dichtkunst meidet mechanisirte Zustände. Im
Uebrigen ist bei dieser Vergleichung von Poesie und Geschichte vorausgesetzt,
daß sich beide in denselben Stoff theilen. Warum es unbedingt vorzuziehen
ist, wenn der Dichter in den betreffenden Zweigen seiner Kunst den Stoff
nicht frei erfindet, sondern aus der Geschichte nimmt, brauchen wir, da
unser ganzes System nach Bau und Inhalt vor Allem gegen stofflosen
Idealismus der Phantasie gekehrt ist, nicht weiter zu zeigen. Wenn Aristo-
teles denselben Satz darauf gründet, daß das Mögliche glaubwürdiger sei,
wenn es geschehen ist, so muß man wohl bemerken, daß er vorher über-
sehen hat, in dem Begriffe des Möglichen ausdrücklich den des überzeugend
Individuellen hervorzuheben. Der Dichter thut darum gut, sich an die
Geschichte zu halten, weil sonst seinem Werke der Schein der Naturwahrheit,
Ton, Wurf und Haltung des individuell Wirklichen abgeht; sein Werk
interessirt uns nicht, weil das, was es darstellt, wirklich geschehen ist, son-
dern weil es zur Kraft des Allgemeinen die unendliche Eigenheit alles In-
dividuellen aus dem Boden des empirisch Wirklichen heraufzieht. Daß aber
die Umschmelzung schwer und daß daher der Dichter im Vortheil ist, wenn
sich ihm geschichtliche Stoffe darbieten, welche die allgemeine Phantasie, die
dichtende Sage schon umgestaltet, schon bis auf einen gewissen Grad poetisch
zugerichtet hat, ist schon öfters bemerkt und muß bei dem Drama noch ein-
mal aufgenommen werden. Eine Aehnlichkeit zwischen Geschichtschreibung
und Dichtung liegt endlich im Großen und Ganzen der Anordnung, worin
doch auch die erstere nach einem Gesetze der Ausscheidung, Auswahl zu

Geſchichte, als auch die Poeſie, jede das Allgemeine und jede das Einzelne
hat, aber jede das letztere in anderem Sinn und daher auch das erſtere
in anderem Verhältniß dazu. Die Geſchichte nämlich, da es ihr um den Stoff
als ſolchen zu thun iſt, nimmt alle die Trübungen des Einzelnen, alſo des
Bandes zwiſchen dem Allgemeinen und Einzelnen auf, welche im Naturſchönen
der ſtörende Zufall mit ſich bringt, ſie verſöhnt mit ihnen durch den weiten
Blick über die Zeiten und Ereigniſſe, die Poeſie aber vollbringt die Ver-
ſöhnung hier, auf dieſem Puncte, indem ſie dieſelben ausſcheidet. Ebenſo
verſchieden ſind ſie im Umfang der Aufnahme des Einzelnen. Der Ge-
ſchichtſchreiber nimmt nur gelegentlich ſolche Züge auf, welche den Gegen-
ſtand der innern Anſchauung greiflich vergegenwärtigen, der Dichter grund-
ſätzlich und überall; auf der andern Seite führt jener eine Maſſe cauſaler
Vermittlungen ein, welche den Individuen den ſchönen Schein der freien
Bewegung entziehen und ſie insbeſondere in der Zeit mechaniſirter Staats-
formen in die Schnüre des Vorgeſchriebenen, Canzlei- und Ordonnanzmäßigen
einſpannen, der Dichter ſtößt ſie aus und ſein Augenmerk iſt, dem Menſchen
ſeine freie Lebendigkeit zu erhalten. (Vergl. hierüber auch Hegel, Aeſthetik.
Th. 3, S. 256 ff.) Dieß führt auf den Unterſchied im Stoffe: die Ge-
ſchichte umfaßt Alles, die Dichtkunſt meidet mechaniſirte Zuſtände. Im
Uebrigen iſt bei dieſer Vergleichung von Poeſie und Geſchichte vorausgeſetzt,
daß ſich beide in denſelben Stoff theilen. Warum es unbedingt vorzuziehen
iſt, wenn der Dichter in den betreffenden Zweigen ſeiner Kunſt den Stoff
nicht frei erfindet, ſondern aus der Geſchichte nimmt, brauchen wir, da
unſer ganzes Syſtem nach Bau und Inhalt vor Allem gegen ſtoffloſen
Idealiſmus der Phantaſie gekehrt iſt, nicht weiter zu zeigen. Wenn Ariſto-
teles denſelben Satz darauf gründet, daß das Mögliche glaubwürdiger ſei,
wenn es geſchehen iſt, ſo muß man wohl bemerken, daß er vorher über-
ſehen hat, in dem Begriffe des Möglichen ausdrücklich den des überzeugend
Individuellen hervorzuheben. Der Dichter thut darum gut, ſich an die
Geſchichte zu halten, weil ſonſt ſeinem Werke der Schein der Naturwahrheit,
Ton, Wurf und Haltung des individuell Wirklichen abgeht; ſein Werk
intereſſirt uns nicht, weil das, was es darſtellt, wirklich geſchehen iſt, ſon-
dern weil es zur Kraft des Allgemeinen die unendliche Eigenheit alles In-
dividuellen aus dem Boden des empiriſch Wirklichen heraufzieht. Daß aber
die Umſchmelzung ſchwer und daß daher der Dichter im Vortheil iſt, wenn
ſich ihm geſchichtliche Stoffe darbieten, welche die allgemeine Phantaſie, die
dichtende Sage ſchon umgeſtaltet, ſchon bis auf einen gewiſſen Grad poetiſch
zugerichtet hat, iſt ſchon öfters bemerkt und muß bei dem Drama noch ein-
mal aufgenommen werden. Eine Aehnlichkeit zwiſchen Geſchichtſchreibung
und Dichtung liegt endlich im Großen und Ganzen der Anordnung, worin
doch auch die erſtere nach einem Geſetze der Ausſcheidung, Auswahl zu

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[1208/0072] Geſchichte, als auch die Poeſie, jede das Allgemeine und jede das Einzelne hat, aber jede das letztere in anderem Sinn und daher auch das erſtere in anderem Verhältniß dazu. Die Geſchichte nämlich, da es ihr um den Stoff als ſolchen zu thun iſt, nimmt alle die Trübungen des Einzelnen, alſo des Bandes zwiſchen dem Allgemeinen und Einzelnen auf, welche im Naturſchönen der ſtörende Zufall mit ſich bringt, ſie verſöhnt mit ihnen durch den weiten Blick über die Zeiten und Ereigniſſe, die Poeſie aber vollbringt die Ver- ſöhnung hier, auf dieſem Puncte, indem ſie dieſelben ausſcheidet. Ebenſo verſchieden ſind ſie im Umfang der Aufnahme des Einzelnen. Der Ge- ſchichtſchreiber nimmt nur gelegentlich ſolche Züge auf, welche den Gegen- ſtand der innern Anſchauung greiflich vergegenwärtigen, der Dichter grund- ſätzlich und überall; auf der andern Seite führt jener eine Maſſe cauſaler Vermittlungen ein, welche den Individuen den ſchönen Schein der freien Bewegung entziehen und ſie insbeſondere in der Zeit mechaniſirter Staats- formen in die Schnüre des Vorgeſchriebenen, Canzlei- und Ordonnanzmäßigen einſpannen, der Dichter ſtößt ſie aus und ſein Augenmerk iſt, dem Menſchen ſeine freie Lebendigkeit zu erhalten. (Vergl. hierüber auch Hegel, Aeſthetik. Th. 3, S. 256 ff.) Dieß führt auf den Unterſchied im Stoffe: die Ge- ſchichte umfaßt Alles, die Dichtkunſt meidet mechaniſirte Zuſtände. Im Uebrigen iſt bei dieſer Vergleichung von Poeſie und Geſchichte vorausgeſetzt, daß ſich beide in denſelben Stoff theilen. Warum es unbedingt vorzuziehen iſt, wenn der Dichter in den betreffenden Zweigen ſeiner Kunſt den Stoff nicht frei erfindet, ſondern aus der Geſchichte nimmt, brauchen wir, da unſer ganzes Syſtem nach Bau und Inhalt vor Allem gegen ſtoffloſen Idealiſmus der Phantaſie gekehrt iſt, nicht weiter zu zeigen. Wenn Ariſto- teles denſelben Satz darauf gründet, daß das Mögliche glaubwürdiger ſei, wenn es geſchehen iſt, ſo muß man wohl bemerken, daß er vorher über- ſehen hat, in dem Begriffe des Möglichen ausdrücklich den des überzeugend Individuellen hervorzuheben. Der Dichter thut darum gut, ſich an die Geſchichte zu halten, weil ſonſt ſeinem Werke der Schein der Naturwahrheit, Ton, Wurf und Haltung des individuell Wirklichen abgeht; ſein Werk intereſſirt uns nicht, weil das, was es darſtellt, wirklich geſchehen iſt, ſon- dern weil es zur Kraft des Allgemeinen die unendliche Eigenheit alles In- dividuellen aus dem Boden des empiriſch Wirklichen heraufzieht. Daß aber die Umſchmelzung ſchwer und daß daher der Dichter im Vortheil iſt, wenn ſich ihm geſchichtliche Stoffe darbieten, welche die allgemeine Phantaſie, die dichtende Sage ſchon umgeſtaltet, ſchon bis auf einen gewiſſen Grad poetiſch zugerichtet hat, iſt ſchon öfters bemerkt und muß bei dem Drama noch ein- mal aufgenommen werden. Eine Aehnlichkeit zwiſchen Geſchichtſchreibung und Dichtung liegt endlich im Großen und Ganzen der Anordnung, worin doch auch die erſtere nach einem Geſetze der Ausſcheidung, Auswahl zu

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/72>, abgerufen am 22.11.2024.