Durch ihre Stellung an der Grenze der Künste ist die Dichtkunst die unmittelbare Nachbarinn des Gebiets, worin scheinlos das Wahre und Gute vorgetragen wird und welches ihr gegenüber Prosa heißt. Sie tritt daher leichter, als jede andere Kunst, auf diesen Boden über, indem sie die wahre ästhetische Einheit von Idee und Bild entmischt, allgemeine oder thatsächliche Wahrheit mit schönen Formen nur äußerlich bekleidet und durch solchen Inhalt näher oder entfernter auf den Willen zu wirken sucht. Hiedurch wird immer zugleich die ästhetische Illusion aufgehoben, indem die Person des Dichters zu sichtbar hervortritt.
Die Stellung der Poesie ist eine andere, als die der übrigen Künste: sie hat zur einen Seite das Land der Kunst, zur andern das Meer der scheinlosen, reinen Geistesthätigkeiten, welche weiterhin wieder in den Willen und das praktische Leben führen, während ihre Schwestern, von Kunstge- biet umgeben, mitten im Lande wohnen und daher einen größern Sprung nöthig haben, um den festen Boden des ungemischt Schönen zu verlassen. Während daher in der Erörterung des Stylgesetzes bei diesen nur die Ausweichung auf den Boden anderer Künste zur Sprache kam, muß hier schon im gegenwärtigen Zusammenhang auch die Ausschreitung in das Gebiet des mit ästhetischen Mitteln nur äußerlich sich schmückenden Wahren und Guten zur Sprache kommen. Die Enge der Nachbarschaft ist ausge- sprochen in der gangbaren und wesentlichen Entgegensetzung der Begriffe Poesie und Prosa: beide werden in diese ausdrückliche Beziehung des Gegensatzes gestellt, eben weil sie trotz der Schärfe der Grenze hart anein- ander liegen. Was Prosa sei, wäre nach den Erörterungen in der Meta- physik des Schönen eigentlich nicht mehr zu untersuchen; doch müssen wir darauf zurückkommen, weil diese Spannung des Verhältnisses eine spezielle Beleuchtung verlangt. Wir gehen dabei von der Berichtigung der betreffen- den Sätze Wilhelms v. Humboldt aus. Er sagt (Aesth. Vers. S. 20), der Unterschied des Reiches der Phantasie von dem Reiche der Wirklichkeit bestehe darin, daß in diesem jede Erscheinung einzeln und für sich dastehe, keine als Grund oder Folge von der andern abhänge; eine solche Abhängig- keit könne niemals wirklich angeschaut, immer nur durch Schlüsse einge- sehen werden; der Begriff des Wirklichen mache auch das Aufsuchen der- selben überflüssig; denn hier sei die Erscheinung einfach da, brauche sich nicht erst durch ihre Ursache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen; sobald man hingegen in das Gebiet des Möglichen übergehe, so bestehe Jedes nur durch seine Abhängigkeit von etwas Anderem, und Alles, was nicht anders als unter der Bedingung eines durchgängigen innern Zusammenhangs ge-
§. 848.
Durch ihre Stellung an der Grenze der Künſte iſt die Dichtkunſt die unmittelbare Nachbarinn des Gebiets, worin ſcheinlos das Wahre und Gute vorgetragen wird und welches ihr gegenüber Proſa heißt. Sie tritt daher leichter, als jede andere Kunſt, auf dieſen Boden über, indem ſie die wahre äſthetiſche Einheit von Idee und Bild entmiſcht, allgemeine oder thatſächliche Wahrheit mit ſchönen Formen nur äußerlich bekleidet und durch ſolchen Inhalt näher oder entfernter auf den Willen zu wirken ſucht. Hiedurch wird immer zugleich die äſthetiſche Illuſion aufgehoben, indem die Perſon des Dichters zu ſichtbar hervortritt.
Die Stellung der Poeſie iſt eine andere, als die der übrigen Künſte: ſie hat zur einen Seite das Land der Kunſt, zur andern das Meer der ſcheinloſen, reinen Geiſtesthätigkeiten, welche weiterhin wieder in den Willen und das praktiſche Leben führen, während ihre Schweſtern, von Kunſtge- biet umgeben, mitten im Lande wohnen und daher einen größern Sprung nöthig haben, um den feſten Boden des ungemiſcht Schönen zu verlaſſen. Während daher in der Erörterung des Stylgeſetzes bei dieſen nur die Ausweichung auf den Boden anderer Künſte zur Sprache kam, muß hier ſchon im gegenwärtigen Zuſammenhang auch die Ausſchreitung in das Gebiet des mit äſthetiſchen Mitteln nur äußerlich ſich ſchmückenden Wahren und Guten zur Sprache kommen. Die Enge der Nachbarſchaft iſt ausge- ſprochen in der gangbaren und weſentlichen Entgegenſetzung der Begriffe Poeſie und Proſa: beide werden in dieſe ausdrückliche Beziehung des Gegenſatzes geſtellt, eben weil ſie trotz der Schärfe der Grenze hart anein- ander liegen. Was Proſa ſei, wäre nach den Erörterungen in der Meta- phyſik des Schönen eigentlich nicht mehr zu unterſuchen; doch müſſen wir darauf zurückkommen, weil dieſe Spannung des Verhältniſſes eine ſpezielle Beleuchtung verlangt. Wir gehen dabei von der Berichtigung der betreffen- den Sätze Wilhelms v. Humboldt aus. Er ſagt (Aeſth. Verſ. S. 20), der Unterſchied des Reiches der Phantaſie von dem Reiche der Wirklichkeit beſtehe darin, daß in dieſem jede Erſcheinung einzeln und für ſich daſtehe, keine als Grund oder Folge von der andern abhänge; eine ſolche Abhängig- keit könne niemals wirklich angeſchaut, immer nur durch Schlüſſe einge- ſehen werden; der Begriff des Wirklichen mache auch das Aufſuchen der- ſelben überflüſſig; denn hier ſei die Erſcheinung einfach da, brauche ſich nicht erſt durch ihre Urſache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen; ſobald man hingegen in das Gebiet des Möglichen übergehe, ſo beſtehe Jedes nur durch ſeine Abhängigkeit von etwas Anderem, und Alles, was nicht anders als unter der Bedingung eines durchgängigen innern Zuſammenhangs ge-
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§. 848.
Durch ihre Stellung an der Grenze der Künſte iſt die Dichtkunſt die
unmittelbare Nachbarinn des Gebiets, worin ſcheinlos das Wahre und Gute
vorgetragen wird und welches ihr gegenüber Proſa heißt. Sie tritt daher
leichter, als jede andere Kunſt, auf dieſen Boden über, indem ſie die wahre
äſthetiſche Einheit von Idee und Bild entmiſcht, allgemeine oder thatſächliche
Wahrheit mit ſchönen Formen nur äußerlich bekleidet und durch ſolchen Inhalt
näher oder entfernter auf den Willen zu wirken ſucht. Hiedurch wird immer
zugleich die äſthetiſche Illuſion aufgehoben, indem die Perſon des Dichters zu
ſichtbar hervortritt.
Die Stellung der Poeſie iſt eine andere, als die der übrigen Künſte:
ſie hat zur einen Seite das Land der Kunſt, zur andern das Meer der
ſcheinloſen, reinen Geiſtesthätigkeiten, welche weiterhin wieder in den Willen
und das praktiſche Leben führen, während ihre Schweſtern, von Kunſtge-
biet umgeben, mitten im Lande wohnen und daher einen größern Sprung
nöthig haben, um den feſten Boden des ungemiſcht Schönen zu verlaſſen.
Während daher in der Erörterung des Stylgeſetzes bei dieſen nur die
Ausweichung auf den Boden anderer Künſte zur Sprache kam, muß hier
ſchon im gegenwärtigen Zuſammenhang auch die Ausſchreitung in das
Gebiet des mit äſthetiſchen Mitteln nur äußerlich ſich ſchmückenden Wahren
und Guten zur Sprache kommen. Die Enge der Nachbarſchaft iſt ausge-
ſprochen in der gangbaren und weſentlichen Entgegenſetzung der Begriffe
Poeſie und Proſa: beide werden in dieſe ausdrückliche Beziehung des
Gegenſatzes geſtellt, eben weil ſie trotz der Schärfe der Grenze hart anein-
ander liegen. Was Proſa ſei, wäre nach den Erörterungen in der Meta-
phyſik des Schönen eigentlich nicht mehr zu unterſuchen; doch müſſen wir
darauf zurückkommen, weil dieſe Spannung des Verhältniſſes eine ſpezielle
Beleuchtung verlangt. Wir gehen dabei von der Berichtigung der betreffen-
den Sätze Wilhelms v. Humboldt aus. Er ſagt (Aeſth. Verſ. S. 20),
der Unterſchied des Reiches der Phantaſie von dem Reiche der Wirklichkeit
beſtehe darin, daß in dieſem jede Erſcheinung einzeln und für ſich daſtehe,
keine als Grund oder Folge von der andern abhänge; eine ſolche Abhängig-
keit könne niemals wirklich angeſchaut, immer nur durch Schlüſſe einge-
ſehen werden; der Begriff des Wirklichen mache auch das Aufſuchen der-
ſelben überflüſſig; denn hier ſei die Erſcheinung einfach da, brauche ſich
nicht erſt durch ihre Urſache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen; ſobald man
hingegen in das Gebiet des Möglichen übergehe, ſo beſtehe Jedes nur
durch ſeine Abhängigkeit von etwas Anderem, und Alles, was nicht anders
als unter der Bedingung eines durchgängigen innern Zuſammenhangs ge-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/69>, abgerufen am 23.11.2024.
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