wärtigen, daß es in den Bewegungszug der Phantasie aufgenommen wird. Tiefer betrachtet entspringt das wahre Stylgesetz aus der Zusammenfassung der Aufgabe der Poesie, Gestalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchsten, die innere Welt und schließlich Handlung darzustellen (§. 842), und bestimmt sich dahin, daß diese Kunst körper andeutungsweise durch Handlungen nach- zuahmen hat (Lessing).
Die Poesie schwebt zwischen den beiden Verirrungen, von deren zweiter dieser §. handelt, wie zwischen Scylla und Charybdis: um der gestaltlosen Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des Malers und da die Flucht vor dem Unbestimmten und Farblosen jedem klaren Geiste das Natürlichere ist, so droht von dieser Klippe die größere Gefahr. Die deutsche Literatur darf stolz darauf sein, durch Lessing das große Grundgesetz der Dichtkunst, welches dieser §. ausspricht, ein für alle- mal hingestellt zu haben. Seit wir seinen Laokoon besitzen, gehört der Satz, daß der Dichter nicht malen soll, zum A B C der Poesie. Wer dagegen am meisten fehlt, sind noch heute, wie damals, als sie die beschreibende Poesie einführten, die in Deutschland in den Brockes, Haller, Kleist ihre Nachahmer fand und gegen welche Lessing's Schrift gerichtet war, die Eng- länder; Walter Scott hat seine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck eines eingefleischten Sündigens gegen diesen Urcodex fast erstickt. Es ist das scharfe, fast mikroskopische Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das umständliche Aufzählen der Züge soll den Leser in den Stand setzen, die Gestalt bis zur Illusion des physischen Schauens und Greifens überzeugend vor sich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er selbst so haarscharf geschaut habe, und der Leser soll ihm folgen, aber die Wirkung ist die entgegengesetzte. -- In der Nachweisung des Gesetzes, von dem es sich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet haben, weichen wir jedoch von Lessing's Begründung (s. Laokoon Cap. 16 und 21) auf den ersten Schritten ab, um erst zum Schlusse die positive Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß die Kategorie der Zeit, welcher die Poesie durch ihr Darstellungsmittel an- gehört, das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Inhalt des Dargestellten ausschließe, ist nicht richtig. Die Kategorie, in welche das Vehikel fällt, ist allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des Geistes an sich, also das Organ, von welchem und für welches gedichtet wird, sich bewegt. Das Zeitleben des Geistes ist aber, wie wir gezeigt haben, in jedem Moment eine intensive Einheit von Verschiedenem, so denn auch als Phantasie eine intensive Anschauung einer Vielheit, welche im Raum ausgebreitet ist: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexi- stirenden Theilen überschaut. Der Gegenstand dieser innern Anschauung
wärtigen, daß es in den Bewegungszug der Phantaſie aufgenommen wird. Tiefer betrachtet entſpringt das wahre Stylgeſetz aus der Zuſammenfaſſung der Aufgabe der Poeſie, Geſtalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchſten, die innere Welt und ſchließlich Handlung darzuſtellen (§. 842), und beſtimmt ſich dahin, daß dieſe Kunſt körper andeutungsweiſe durch Handlungen nach- zuahmen hat (Leſſing).
Die Poeſie ſchwebt zwiſchen den beiden Verirrungen, von deren zweiter dieſer §. handelt, wie zwiſchen Scylla und Charybdis: um der geſtaltloſen Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des Malers und da die Flucht vor dem Unbeſtimmten und Farbloſen jedem klaren Geiſte das Natürlichere iſt, ſo droht von dieſer Klippe die größere Gefahr. Die deutſche Literatur darf ſtolz darauf ſein, durch Leſſing das große Grundgeſetz der Dichtkunſt, welches dieſer §. ausſpricht, ein für alle- mal hingeſtellt zu haben. Seit wir ſeinen Laokoon beſitzen, gehört der Satz, daß der Dichter nicht malen ſoll, zum A B C der Poeſie. Wer dagegen am meiſten fehlt, ſind noch heute, wie damals, als ſie die beſchreibende Poeſie einführten, die in Deutſchland in den Brockes, Haller, Kleiſt ihre Nachahmer fand und gegen welche Leſſing’s Schrift gerichtet war, die Eng- länder; Walter Scott hat ſeine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck eines eingefleiſchten Sündigens gegen dieſen Urcodex faſt erſtickt. Es iſt das ſcharfe, faſt mikroſkopiſche Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das umſtändliche Aufzählen der Züge ſoll den Leſer in den Stand ſetzen, die Geſtalt bis zur Illuſion des phyſiſchen Schauens und Greifens überzeugend vor ſich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er ſelbſt ſo haarſcharf geſchaut habe, und der Leſer ſoll ihm folgen, aber die Wirkung iſt die entgegengeſetzte. — In der Nachweiſung des Geſetzes, von dem es ſich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet haben, weichen wir jedoch von Leſſing’s Begründung (ſ. Laokoon Cap. 16 und 21) auf den erſten Schritten ab, um erſt zum Schluſſe die poſitive Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß die Kategorie der Zeit, welcher die Poeſie durch ihr Darſtellungsmittel an- gehört, das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Inhalt des Dargeſtellten ausſchließe, iſt nicht richtig. Die Kategorie, in welche das Vehikel fällt, iſt allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des Geiſtes an ſich, alſo das Organ, von welchem und für welches gedichtet wird, ſich bewegt. Das Zeitleben des Geiſtes iſt aber, wie wir gezeigt haben, in jedem Moment eine intenſive Einheit von Verſchiedenem, ſo denn auch als Phantaſie eine intenſive Anſchauung einer Vielheit, welche im Raum ausgebreitet iſt: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexi- ſtirenden Theilen überſchaut. Der Gegenſtand dieſer innern Anſchauung
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Tiefer betrachtet entſpringt das wahre Stylgeſetz aus der Zuſammenfaſſung der
Aufgabe der Poeſie, Geſtalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchſten, die innere
Welt und ſchließlich Handlung darzuſtellen (§. 842), und beſtimmt ſich dahin,
daß dieſe Kunſt körper andeutungsweiſe durch Handlungen nach-
zuahmen hat (Leſſing).
Die Poeſie ſchwebt zwiſchen den beiden Verirrungen, von deren zweiter
dieſer §. handelt, wie zwiſchen Scylla und Charybdis: um der geſtaltloſen
Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des
Malers und da die Flucht vor dem Unbeſtimmten und Farbloſen jedem
klaren Geiſte das Natürlichere iſt, ſo droht von dieſer Klippe die größere
Gefahr. Die deutſche Literatur darf ſtolz darauf ſein, durch Leſſing das
große Grundgeſetz der Dichtkunſt, welches dieſer §. ausſpricht, ein für alle-
mal hingeſtellt zu haben. Seit wir ſeinen Laokoon beſitzen, gehört der Satz,
daß der Dichter nicht malen ſoll, zum A B C der Poeſie. Wer dagegen
am meiſten fehlt, ſind noch heute, wie damals, als ſie die beſchreibende
Poeſie einführten, die in Deutſchland in den Brockes, Haller, Kleiſt ihre
Nachahmer fand und gegen welche Leſſing’s Schrift gerichtet war, die Eng-
länder; Walter Scott hat ſeine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck
eines eingefleiſchten Sündigens gegen dieſen Urcodex faſt erſtickt. Es iſt das
ſcharfe, faſt mikroſkopiſche Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das
umſtändliche Aufzählen der Züge ſoll den Leſer in den Stand ſetzen, die
Geſtalt bis zur Illuſion des phyſiſchen Schauens und Greifens überzeugend
vor ſich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er ſelbſt
ſo haarſcharf geſchaut habe, und der Leſer ſoll ihm folgen, aber die Wirkung
iſt die entgegengeſetzte. — In der Nachweiſung des Geſetzes, von dem es
ſich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet
haben, weichen wir jedoch von Leſſing’s Begründung (ſ. Laokoon Cap.
16 und 21) auf den erſten Schritten ab, um erſt zum Schluſſe die poſitive
Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß
die Kategorie der Zeit, welcher die Poeſie durch ihr Darſtellungsmittel an-
gehört, das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Inhalt des
Dargeſtellten ausſchließe, iſt nicht richtig. Die Kategorie, in welche das
Vehikel fällt, iſt allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des
Geiſtes an ſich, alſo das Organ, von welchem und für welches gedichtet
wird, ſich bewegt. Das Zeitleben des Geiſtes iſt aber, wie wir gezeigt
haben, in jedem Moment eine intenſive Einheit von Verſchiedenem, ſo denn
auch als Phantaſie eine intenſive Anſchauung einer Vielheit, welche im
Raum ausgebreitet iſt: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexi-
ſtirenden Theilen überſchaut. Der Gegenſtand dieſer innern Anſchauung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/64>, abgerufen am 21.11.2024.
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