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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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könne nicht mehrere Vorstellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantasie
breitet er ein Bild vor sich aus, das viele Bilder in sich schließt, seine
Gefühle sind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von
Gedanken in Einem zusammen. Aber Alles, was er innerlich schaut, fühlt
und denkt, bewegt sich im stetigen Flusse der Zeit. Der Geist ist zeitlose
Idealität, in Zeitform sich äußernd, diese ist der Pulsschlag, der Perpendikel
seiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in sich zusam-
menfaßt, nicht anders, als in der Form des Nacheinander darstellen, wenn
er nicht seine Grundform freiwillig aufgeben und sein Inneres in festem
Körper nachgebildet in den Raum stellen will. Die Musik führt gleichzeitige
Unterschiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem sie sich zur
Harmonie ausbildet. Die Poesie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht
ebenso verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder gelesen
werden, sie gibt aber in Einem Momente der Phantasie eine räumliche und
geistige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Incongruenzen
zu gerathen, indem sie diese Vielheit successiv fortführt. Davon wird seines
Orts die Rede sein; jetzt ist zunächst die Verwandtschaft zwischen Musik und
Poesie weiter zu verfolgen.

2. Wie das Bewußtsein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt
und von ihm begleitet wird, so muß die Kunstform, die den Uebergang
vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem sie (logisch, doch
in gewissem Sinn auch historisch) herkommt, festhalten und kundgeben.
Es sind aber die Momente, worin dieß innige Band, diese Rückweisung
auf den mütterlichen Schooß sich ausspricht, wohl zu unterscheiden. Für's
Erste findet, ähnlich wie bei der geistigen Erneuerung der Wirkungen der
bildenden Kunst, ein eigentliches Nachahmen der Leistungen Statt: die
Dichtkunst kann bis auf einen gewissen Grad dem innerlichen Gehöre durch
Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; sie kann es,
sofern dem Gefühle das Bewußtsein (§. 748), die Vorstellung bestimmter
Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer
unmittelbar nahe liegt, sie kann es aber doch nur in ganz entfernter und
schwankender Andeutung, indem das Innerste des spezifisch für sich auf-
tretenden Gefühls niemals in Worte zu fassen ist. Nur das Allgemeinste
einer Stimmung, wie sie in einer Melodie liegt, kann ausgesprochen werden,
wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beispiel in den
Worten des Herzogs in "Was ihr wollt":

Die Weise noch einmal! -- sie starb so hin;
O sie beschlich mein Ohr dem Weste gleich,
Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht
Und Düfte stiehlt und gibt. --

könne nicht mehrere Vorſtellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantaſie
breitet er ein Bild vor ſich aus, das viele Bilder in ſich ſchließt, ſeine
Gefühle ſind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von
Gedanken in Einem zuſammen. Aber Alles, was er innerlich ſchaut, fühlt
und denkt, bewegt ſich im ſtetigen Fluſſe der Zeit. Der Geiſt iſt zeitloſe
Idealität, in Zeitform ſich äußernd, dieſe iſt der Pulsſchlag, der Perpendikel
ſeiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in ſich zuſam-
menfaßt, nicht anders, als in der Form des Nacheinander darſtellen, wenn
er nicht ſeine Grundform freiwillig aufgeben und ſein Inneres in feſtem
Körper nachgebildet in den Raum ſtellen will. Die Muſik führt gleichzeitige
Unterſchiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem ſie ſich zur
Harmonie ausbildet. Die Poeſie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht
ebenſo verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder geleſen
werden, ſie gibt aber in Einem Momente der Phantaſie eine räumliche und
geiſtige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Incongruenzen
zu gerathen, indem ſie dieſe Vielheit ſucceſſiv fortführt. Davon wird ſeines
Orts die Rede ſein; jetzt iſt zunächſt die Verwandtſchaft zwiſchen Muſik und
Poeſie weiter zu verfolgen.

2. Wie das Bewußtſein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt
und von ihm begleitet wird, ſo muß die Kunſtform, die den Uebergang
vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem ſie (logiſch, doch
in gewiſſem Sinn auch hiſtoriſch) herkommt, feſthalten und kundgeben.
Es ſind aber die Momente, worin dieß innige Band, dieſe Rückweiſung
auf den mütterlichen Schooß ſich ausſpricht, wohl zu unterſcheiden. Für’s
Erſte findet, ähnlich wie bei der geiſtigen Erneuerung der Wirkungen der
bildenden Kunſt, ein eigentliches Nachahmen der Leiſtungen Statt: die
Dichtkunſt kann bis auf einen gewiſſen Grad dem innerlichen Gehöre durch
Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; ſie kann es,
ſofern dem Gefühle das Bewußtſein (§. 748), die Vorſtellung beſtimmter
Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer
unmittelbar nahe liegt, ſie kann es aber doch nur in ganz entfernter und
ſchwankender Andeutung, indem das Innerſte des ſpezifiſch für ſich auf-
tretenden Gefühls niemals in Worte zu faſſen iſt. Nur das Allgemeinſte
einer Stimmung, wie ſie in einer Melodie liegt, kann ausgeſprochen werden,
wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beiſpiel in den
Worten des Herzogs in „Was ihr wollt“:

Die Weiſe noch einmal! — ſie ſtarb ſo hin;
O ſie beſchlich mein Ohr dem Weſte gleich,
Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht
Und Düfte ſtiehlt und gibt. —

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[1176/0040] könne nicht mehrere Vorſtellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantaſie breitet er ein Bild vor ſich aus, das viele Bilder in ſich ſchließt, ſeine Gefühle ſind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von Gedanken in Einem zuſammen. Aber Alles, was er innerlich ſchaut, fühlt und denkt, bewegt ſich im ſtetigen Fluſſe der Zeit. Der Geiſt iſt zeitloſe Idealität, in Zeitform ſich äußernd, dieſe iſt der Pulsſchlag, der Perpendikel ſeiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in ſich zuſam- menfaßt, nicht anders, als in der Form des Nacheinander darſtellen, wenn er nicht ſeine Grundform freiwillig aufgeben und ſein Inneres in feſtem Körper nachgebildet in den Raum ſtellen will. Die Muſik führt gleichzeitige Unterſchiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem ſie ſich zur Harmonie ausbildet. Die Poeſie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht ebenſo verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder geleſen werden, ſie gibt aber in Einem Momente der Phantaſie eine räumliche und geiſtige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Incongruenzen zu gerathen, indem ſie dieſe Vielheit ſucceſſiv fortführt. Davon wird ſeines Orts die Rede ſein; jetzt iſt zunächſt die Verwandtſchaft zwiſchen Muſik und Poeſie weiter zu verfolgen. 2. Wie das Bewußtſein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt und von ihm begleitet wird, ſo muß die Kunſtform, die den Uebergang vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem ſie (logiſch, doch in gewiſſem Sinn auch hiſtoriſch) herkommt, feſthalten und kundgeben. Es ſind aber die Momente, worin dieß innige Band, dieſe Rückweiſung auf den mütterlichen Schooß ſich ausſpricht, wohl zu unterſcheiden. Für’s Erſte findet, ähnlich wie bei der geiſtigen Erneuerung der Wirkungen der bildenden Kunſt, ein eigentliches Nachahmen der Leiſtungen Statt: die Dichtkunſt kann bis auf einen gewiſſen Grad dem innerlichen Gehöre durch Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; ſie kann es, ſofern dem Gefühle das Bewußtſein (§. 748), die Vorſtellung beſtimmter Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer unmittelbar nahe liegt, ſie kann es aber doch nur in ganz entfernter und ſchwankender Andeutung, indem das Innerſte des ſpezifiſch für ſich auf- tretenden Gefühls niemals in Worte zu faſſen iſt. Nur das Allgemeinſte einer Stimmung, wie ſie in einer Melodie liegt, kann ausgeſprochen werden, wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beiſpiel in den Worten des Herzogs in „Was ihr wollt“: Die Weiſe noch einmal! — ſie ſtarb ſo hin; O ſie beſchlich mein Ohr dem Weſte gleich, Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht Und Düfte ſtiehlt und gibt. —

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/40>, abgerufen am 18.04.2024.