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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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heit: was der Mensch durch den Zufall erlebt, bleibt imputabel, weil er
sich mit seinen Wünschen, Gelüsten, Wollen und Berechnen ganz in das
Element einläßt, worin der Zufall waltet; die eigene Zurechnung aber legt
dem Zufall naturgemäß einen Zurechner unter. Alle ächten, glücklichen
Lustspielmotive drehen sich um einen schlagenden Moment des neckenden
Spiels zwischen Berechnung und Zufall. Allein dieß Verhältniß kann auch
so behandelt werden, daß es das Motiv bildet, um die Aufmerksamkeit auf
das Spiel des Hellen und Dunkeln, des Bewußten und Unbewußten im
Innern des Menschen hinzuleiten, und darauf gründet sich das Charakter-
lustspiel im Unterschiede vom Intriguenlustspiel. Es ist kein Zweifel, daß
dasselbe die tiefere Seite der Komik ergreift; das Zwielicht im Geiste, die
wunderbaren Verschiebungen und Reflexe des Vernünftigen und der Grille,
des festen, klaren Wollens und der Schwäche, des dunkeln Triebs, der
Selbsterkenntniß und der Blindheit, des Sinns im Wahnsinne, des Wahn-
sinns im Sinne, alle die irrationalen Brüche im originellen Menschen und
die Widersprüche des Humors: da liegt ohne Frage eine tiefere Komik, als
in dem mathematischen Witze der Kreuzungen von List und Zufall. Wir
haben schon in der allgemeinen Erörterung der Stylgegensätze den romani-
schen Völkern, namentlich Spaniern und Franzosen, vorherrschend das Talent
für diese zweite Seite zugesprochen (vergl. §. 908). Die spanischen Mantel-
und Degenstücke, so weit sie zur Komödie gehören, sind wesentlich Intriguen-
stücke; Moliere ist als Charakterzeichner berühmt, aber seine Charaktere sind
nicht Individuen, sondern Typen, und der komische Accent fällt daher nicht
auf verschlungene Tiefen der Subjectivität, sondern auf die Situation, worin
der Charakter seine stehenden maskenhaften Züge entwickelt; die ganze neuere
Lustspiel-Literatur der Franzosen aber zeigt, daß es das Spiel der Intrigue
ist, was ihrer zierlichen Hand, ihrem disponirenden, mathematisch witzigen
romanischen Geiste besonders ansteht. Niemals haben wir sie in ihrer leichten,
schwebenden Bewegtheit, ihrem heiteren Witze der komischen Schläge im Gange
der Handlung erreicht. Witz ist allerdings weniger, als Humor. Der germa-
nische Geist ist stets der concreteren Komik des Charakterlustspiels nachge-
gangen; von Shakespeare's Komödien sind eigentlich nur die Irrungen ein
Intriguenstück zu nennen; aber Shakespeare hatte zum Humor, der eine
komische Charakterwelt erfand, den leichten Witz der Composition einer
Handlung, welche mehr oder minder Intrigue ist, und hier fehlt es den
Deutschen. Der Grund, warum wir so arm sind an Komödien, liegt zum
Theil allerdings in dem Mangel einer Gesellschaft, einer großen Ton-
angebenden Hauptstadt mit der gleich fließenden Stoffquelle komischer Typen,
komischer Verhältnisse, zum Theil auch im Mangel politischer Freiheit, weit
mehr aber in einer Einseitigkeit des Talents, die wir zu §. 899 schon er-
wähnt haben: der deutsche Genius besitzt alle Tiefe für die inhaltsvollere

heit: was der Menſch durch den Zufall erlebt, bleibt imputabel, weil er
ſich mit ſeinen Wünſchen, Gelüſten, Wollen und Berechnen ganz in das
Element einläßt, worin der Zufall waltet; die eigene Zurechnung aber legt
dem Zufall naturgemäß einen Zurechner unter. Alle ächten, glücklichen
Luſtſpielmotive drehen ſich um einen ſchlagenden Moment des neckenden
Spiels zwiſchen Berechnung und Zufall. Allein dieß Verhältniß kann auch
ſo behandelt werden, daß es das Motiv bildet, um die Aufmerkſamkeit auf
das Spiel des Hellen und Dunkeln, des Bewußten und Unbewußten im
Innern des Menſchen hinzuleiten, und darauf gründet ſich das Charakter-
luſtſpiel im Unterſchiede vom Intriguenluſtſpiel. Es iſt kein Zweifel, daß
daſſelbe die tiefere Seite der Komik ergreift; das Zwielicht im Geiſte, die
wunderbaren Verſchiebungen und Reflexe des Vernünftigen und der Grille,
des feſten, klaren Wollens und der Schwäche, des dunkeln Triebs, der
Selbſterkenntniß und der Blindheit, des Sinns im Wahnſinne, des Wahn-
ſinns im Sinne, alle die irrationalen Brüche im originellen Menſchen und
die Widerſprüche des Humors: da liegt ohne Frage eine tiefere Komik, als
in dem mathematiſchen Witze der Kreuzungen von Liſt und Zufall. Wir
haben ſchon in der allgemeinen Erörterung der Stylgegenſätze den romani-
ſchen Völkern, namentlich Spaniern und Franzoſen, vorherrſchend das Talent
für dieſe zweite Seite zugeſprochen (vergl. §. 908). Die ſpaniſchen Mantel-
und Degenſtücke, ſo weit ſie zur Komödie gehören, ſind weſentlich Intriguen-
ſtücke; Moliere iſt als Charakterzeichner berühmt, aber ſeine Charaktere ſind
nicht Individuen, ſondern Typen, und der komiſche Accent fällt daher nicht
auf verſchlungene Tiefen der Subjectivität, ſondern auf die Situation, worin
der Charakter ſeine ſtehenden maskenhaften Züge entwickelt; die ganze neuere
Luſtſpiel-Literatur der Franzoſen aber zeigt, daß es das Spiel der Intrigue
iſt, was ihrer zierlichen Hand, ihrem diſponirenden, mathematiſch witzigen
romaniſchen Geiſte beſonders anſteht. Niemals haben wir ſie in ihrer leichten,
ſchwebenden Bewegtheit, ihrem heiteren Witze der komiſchen Schläge im Gange
der Handlung erreicht. Witz iſt allerdings weniger, als Humor. Der germa-
niſche Geiſt iſt ſtets der concreteren Komik des Charakterluſtſpiels nachge-
gangen; von Shakespeare’s Komödien ſind eigentlich nur die Irrungen ein
Intriguenſtück zu nennen; aber Shakespeare hatte zum Humor, der eine
komiſche Charakterwelt erfand, den leichten Witz der Compoſition einer
Handlung, welche mehr oder minder Intrigue iſt, und hier fehlt es den
Deutſchen. Der Grund, warum wir ſo arm ſind an Komödien, liegt zum
Theil allerdings in dem Mangel einer Geſellſchaft, einer großen Ton-
angebenden Hauptſtadt mit der gleich fließenden Stoffquelle komiſcher Typen,
komiſcher Verhältniſſe, zum Theil auch im Mangel politiſcher Freiheit, weit
mehr aber in einer Einſeitigkeit des Talents, die wir zu §. 899 ſchon er-
wähnt haben: der deutſche Genius beſitzt alle Tiefe für die inhaltsvollere

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[1435/0299] heit: was der Menſch durch den Zufall erlebt, bleibt imputabel, weil er ſich mit ſeinen Wünſchen, Gelüſten, Wollen und Berechnen ganz in das Element einläßt, worin der Zufall waltet; die eigene Zurechnung aber legt dem Zufall naturgemäß einen Zurechner unter. Alle ächten, glücklichen Luſtſpielmotive drehen ſich um einen ſchlagenden Moment des neckenden Spiels zwiſchen Berechnung und Zufall. Allein dieß Verhältniß kann auch ſo behandelt werden, daß es das Motiv bildet, um die Aufmerkſamkeit auf das Spiel des Hellen und Dunkeln, des Bewußten und Unbewußten im Innern des Menſchen hinzuleiten, und darauf gründet ſich das Charakter- luſtſpiel im Unterſchiede vom Intriguenluſtſpiel. Es iſt kein Zweifel, daß daſſelbe die tiefere Seite der Komik ergreift; das Zwielicht im Geiſte, die wunderbaren Verſchiebungen und Reflexe des Vernünftigen und der Grille, des feſten, klaren Wollens und der Schwäche, des dunkeln Triebs, der Selbſterkenntniß und der Blindheit, des Sinns im Wahnſinne, des Wahn- ſinns im Sinne, alle die irrationalen Brüche im originellen Menſchen und die Widerſprüche des Humors: da liegt ohne Frage eine tiefere Komik, als in dem mathematiſchen Witze der Kreuzungen von Liſt und Zufall. Wir haben ſchon in der allgemeinen Erörterung der Stylgegenſätze den romani- ſchen Völkern, namentlich Spaniern und Franzoſen, vorherrſchend das Talent für dieſe zweite Seite zugeſprochen (vergl. §. 908). Die ſpaniſchen Mantel- und Degenſtücke, ſo weit ſie zur Komödie gehören, ſind weſentlich Intriguen- ſtücke; Moliere iſt als Charakterzeichner berühmt, aber ſeine Charaktere ſind nicht Individuen, ſondern Typen, und der komiſche Accent fällt daher nicht auf verſchlungene Tiefen der Subjectivität, ſondern auf die Situation, worin der Charakter ſeine ſtehenden maskenhaften Züge entwickelt; die ganze neuere Luſtſpiel-Literatur der Franzoſen aber zeigt, daß es das Spiel der Intrigue iſt, was ihrer zierlichen Hand, ihrem diſponirenden, mathematiſch witzigen romaniſchen Geiſte beſonders anſteht. Niemals haben wir ſie in ihrer leichten, ſchwebenden Bewegtheit, ihrem heiteren Witze der komiſchen Schläge im Gange der Handlung erreicht. Witz iſt allerdings weniger, als Humor. Der germa- niſche Geiſt iſt ſtets der concreteren Komik des Charakterluſtſpiels nachge- gangen; von Shakespeare’s Komödien ſind eigentlich nur die Irrungen ein Intriguenſtück zu nennen; aber Shakespeare hatte zum Humor, der eine komiſche Charakterwelt erfand, den leichten Witz der Compoſition einer Handlung, welche mehr oder minder Intrigue iſt, und hier fehlt es den Deutſchen. Der Grund, warum wir ſo arm ſind an Komödien, liegt zum Theil allerdings in dem Mangel einer Geſellſchaft, einer großen Ton- angebenden Hauptſtadt mit der gleich fließenden Stoffquelle komiſcher Typen, komiſcher Verhältniſſe, zum Theil auch im Mangel politiſcher Freiheit, weit mehr aber in einer Einſeitigkeit des Talents, die wir zu §. 899 ſchon er- wähnt haben: der deutſche Genius beſitzt alle Tiefe für die inhaltsvollere

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/299>, abgerufen am 24.11.2024.