So geht im Makbeth die Stufenfolge vom ersten Morde zum zweiten, dann zu der Hexenscene, welche den Helden durch den innern Widerspruch der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth stürzt, dann zu der Ermordung der Familie Makduff's weiter, und in gleichem Schritte mit dieser Reihe von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerstörung und der Macht, welche die äußere Zerstörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der wilden Grausamkeit gegen Makduff's Familie, ist der Held auf dem Gipfel angekommen, ja er hat den Fuß schon darüber hinausgesetzt, das Aufsteigen ist bereits entschieden ein Herabsteigen. Ueberhaupt wird sich der Moment des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern, ironischen Widerspruchs der Bewegung immer schon auf dieser Strecke der Verwicklung einstellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nach- weisen lassen, wohl aber wird sich ein sichtbarer Gipfel des Glücks auf- zeigen lassen, wo der Held, der die Vorboten seines Falls nicht sieht oder sich darüber wegsetzt, seinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von diesem Höhepunct an geht es dann augenscheinlich bergab. Die Katastrophe selbst verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es sich nicht blos um das Schicksal der Hauptperson, sondern auch der Neben- personen und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund sich erstrecken. Uebersieht man diese Theile, so ergibt sich wie von selbst die Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die sich mit Rücksicht auf die Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pausen als Acte darstellen: Einschnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgesänge gebildet wurden und erst, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigent- lichen Stillständen der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anspruch nehmen, als Anfang und Ende, und mit ihren verschiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch können auch Fälle vorkommen, wo die Katastrophe zwei Acte verlangt, indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entscheidung, z. B. für eine ganze Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt sein wollen. Die Alten hatten drei Hauptabschnitte; Prolog: der Theil, der die Exposition enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwischen dem Einzuge des Chors und den Standliedern desselben; Exodos: nach dem letzten Standliede. Der mittlere dieser Theile, die Verwicklung enthaltend, zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine bestimmte Zahl von Acten, wie sie zuerst Horaz aufstellt, kann zwar keine bindende Regel sein, aber es ist gut und recht, daß sich ein Brauch festgesetzt hat. Die Acte theilen sich wieder in Scenen, diese in ihre einzelnen Gruppen und Situa- tionen und das Drama erscheint so gegenüber dem stetigen Flusse des Epos, der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Gesänge zerfällt, als
90*
So geht im Makbeth die Stufenfolge vom erſten Morde zum zweiten, dann zu der Hexenſcene, welche den Helden durch den innern Widerſpruch der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth ſtürzt, dann zu der Ermordung der Familie Makduff’s weiter, und in gleichem Schritte mit dieſer Reihe von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerſtörung und der Macht, welche die äußere Zerſtörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der wilden Grauſamkeit gegen Makduff’s Familie, iſt der Held auf dem Gipfel angekommen, ja er hat den Fuß ſchon darüber hinausgeſetzt, das Aufſteigen iſt bereits entſchieden ein Herabſteigen. Ueberhaupt wird ſich der Moment des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern, ironiſchen Widerſpruchs der Bewegung immer ſchon auf dieſer Strecke der Verwicklung einſtellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nach- weiſen laſſen, wohl aber wird ſich ein ſichtbarer Gipfel des Glücks auf- zeigen laſſen, wo der Held, der die Vorboten ſeines Falls nicht ſieht oder ſich darüber wegſetzt, ſeinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von dieſem Höhepunct an geht es dann augenſcheinlich bergab. Die Kataſtrophe ſelbſt verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es ſich nicht blos um das Schickſal der Hauptperſon, ſondern auch der Neben- perſonen und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund ſich erſtrecken. Ueberſieht man dieſe Theile, ſo ergibt ſich wie von ſelbſt die Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die ſich mit Rückſicht auf die Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pauſen als Acte darſtellen: Einſchnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgeſänge gebildet wurden und erſt, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigent- lichen Stillſtänden der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anſpruch nehmen, als Anfang und Ende, und mit ihren verſchiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch können auch Fälle vorkommen, wo die Kataſtrophe zwei Acte verlangt, indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entſcheidung, z. B. für eine ganze Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt ſein wollen. Die Alten hatten drei Hauptabſchnitte; Prolog: der Theil, der die Expoſition enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwiſchen dem Einzuge des Chors und den Standliedern deſſelben; Exodos: nach dem letzten Standliede. Der mittlere dieſer Theile, die Verwicklung enthaltend, zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine beſtimmte Zahl von Acten, wie ſie zuerſt Horaz aufſtellt, kann zwar keine bindende Regel ſein, aber es iſt gut und recht, daß ſich ein Brauch feſtgeſetzt hat. Die Acte theilen ſich wieder in Scenen, dieſe in ihre einzelnen Gruppen und Situa- tionen und das Drama erſcheint ſo gegenüber dem ſtetigen Fluſſe des Epos, der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Geſänge zerfällt, als
90*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0265"n="1401"/>
So geht im Makbeth die Stufenfolge vom erſten Morde zum zweiten,<lb/>
dann zu der Hexenſcene, welche den Helden durch den innern Widerſpruch<lb/>
der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth ſtürzt, dann zu der Ermordung<lb/>
der Familie Makduff’s weiter, und in gleichem Schritte mit dieſer Reihe<lb/>
von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerſtörung und der Macht,<lb/>
welche die äußere Zerſtörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der<lb/>
wilden Grauſamkeit gegen Makduff’s Familie, iſt der Held auf dem Gipfel<lb/>
angekommen, ja er hat den Fuß ſchon darüber hinausgeſetzt, das Aufſteigen<lb/>
iſt bereits entſchieden ein Herabſteigen. Ueberhaupt wird ſich der Moment<lb/>
des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern,<lb/>
ironiſchen Widerſpruchs der Bewegung immer ſchon auf dieſer Strecke der<lb/>
Verwicklung einſtellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nach-<lb/>
weiſen laſſen, wohl aber wird ſich ein ſichtbarer Gipfel des Glücks auf-<lb/>
zeigen laſſen, wo der Held, der die Vorboten ſeines Falls nicht ſieht oder<lb/>ſich darüber wegſetzt, ſeinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von dieſem<lb/>
Höhepunct an geht es dann augenſcheinlich bergab. Die Kataſtrophe ſelbſt<lb/>
verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es<lb/>ſich nicht blos um das Schickſal der Hauptperſon, ſondern auch der Neben-<lb/>
perſonen und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund<lb/>ſich erſtrecken. Ueberſieht man dieſe Theile, ſo ergibt ſich wie von ſelbſt die<lb/>
Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die ſich mit Rückſicht auf die<lb/>
Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pauſen als Acte darſtellen:<lb/>
Einſchnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgeſänge gebildet<lb/>
wurden und erſt, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigent-<lb/>
lichen Stillſtänden der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die<lb/>
Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anſpruch nehmen, als Anfang<lb/>
und Ende, und mit ihren verſchiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch<lb/>
können auch Fälle vorkommen, wo die Kataſtrophe zwei Acte verlangt,<lb/>
indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entſcheidung, z. B. für eine ganze<lb/>
Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt ſein wollen. Die<lb/>
Alten hatten drei Hauptabſchnitte; Prolog: der Theil, der die Expoſition<lb/>
enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwiſchen<lb/>
dem Einzuge des Chors und den Standliedern deſſelben; Exodos: nach dem<lb/>
letzten Standliede. Der mittlere dieſer Theile, die Verwicklung enthaltend,<lb/>
zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern<lb/>
getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine beſtimmte Zahl von<lb/>
Acten, wie ſie zuerſt Horaz aufſtellt, kann zwar keine bindende Regel ſein,<lb/>
aber es iſt gut und recht, daß ſich ein Brauch feſtgeſetzt hat. Die Acte<lb/>
theilen ſich wieder in Scenen, dieſe in ihre einzelnen Gruppen und Situa-<lb/>
tionen und das Drama erſcheint ſo gegenüber dem ſtetigen Fluſſe des Epos,<lb/>
der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Geſänge zerfällt, als</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">90*</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1401/0265]
So geht im Makbeth die Stufenfolge vom erſten Morde zum zweiten,
dann zu der Hexenſcene, welche den Helden durch den innern Widerſpruch
der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth ſtürzt, dann zu der Ermordung
der Familie Makduff’s weiter, und in gleichem Schritte mit dieſer Reihe
von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerſtörung und der Macht,
welche die äußere Zerſtörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der
wilden Grauſamkeit gegen Makduff’s Familie, iſt der Held auf dem Gipfel
angekommen, ja er hat den Fuß ſchon darüber hinausgeſetzt, das Aufſteigen
iſt bereits entſchieden ein Herabſteigen. Ueberhaupt wird ſich der Moment
des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern,
ironiſchen Widerſpruchs der Bewegung immer ſchon auf dieſer Strecke der
Verwicklung einſtellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nach-
weiſen laſſen, wohl aber wird ſich ein ſichtbarer Gipfel des Glücks auf-
zeigen laſſen, wo der Held, der die Vorboten ſeines Falls nicht ſieht oder
ſich darüber wegſetzt, ſeinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von dieſem
Höhepunct an geht es dann augenſcheinlich bergab. Die Kataſtrophe ſelbſt
verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es
ſich nicht blos um das Schickſal der Hauptperſon, ſondern auch der Neben-
perſonen und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund
ſich erſtrecken. Ueberſieht man dieſe Theile, ſo ergibt ſich wie von ſelbſt die
Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die ſich mit Rückſicht auf die
Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pauſen als Acte darſtellen:
Einſchnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgeſänge gebildet
wurden und erſt, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigent-
lichen Stillſtänden der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die
Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anſpruch nehmen, als Anfang
und Ende, und mit ihren verſchiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch
können auch Fälle vorkommen, wo die Kataſtrophe zwei Acte verlangt,
indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entſcheidung, z. B. für eine ganze
Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt ſein wollen. Die
Alten hatten drei Hauptabſchnitte; Prolog: der Theil, der die Expoſition
enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwiſchen
dem Einzuge des Chors und den Standliedern deſſelben; Exodos: nach dem
letzten Standliede. Der mittlere dieſer Theile, die Verwicklung enthaltend,
zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern
getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine beſtimmte Zahl von
Acten, wie ſie zuerſt Horaz aufſtellt, kann zwar keine bindende Regel ſein,
aber es iſt gut und recht, daß ſich ein Brauch feſtgeſetzt hat. Die Acte
theilen ſich wieder in Scenen, dieſe in ihre einzelnen Gruppen und Situa-
tionen und das Drama erſcheint ſo gegenüber dem ſtetigen Fluſſe des Epos,
der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Geſänge zerfällt, als
90*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/265>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.