schwunden zu denken sind, und Personen, die im ersten Act als Jünglinge auftreten, im letzten als graue Greise vorführen. Die Idealisirung der Zeit ist, wie alles Schöne, eine Zusammenziehung und derselbe Begriff gilt zu- nächst auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos zieht sich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne zusammen, die empirische Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo der höchste Lebens-Inhalt sich auf den gegenwärtigen schmalen Punct ver- dichtet, gar keine Existenz. Allein die Phantasie, von innen heraus arbeitend, dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus setzend, kann mit ihren geistigen Schwingen diesen Inhalt in jedem Moment auf einen andern Punct des Raums hinübertragen; ist nur der innere Zusam- menhang gerechtfertigt, so mag das Wo durch die mitwirkenden äußern Motive bestimmt werden. So wird hier die Idealisirung zum freien Wechsel, allein der Begriff der Zusammenziehung erhält sich, tritt noch einmal auf. Willkür im Gebrauche dieser Freiheit ist nämlich ihr selbst im Wege, indem sie gerade an die empirische Wirklichkeit erinnert, wo sie in idealem Schwung über sie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechsel des Orts beunruhigt, erinnert durch diese Unruhe an die prosaische Arbeit der gemeinen Raumüberwindung, weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Con- centration der Handlung auf einen Punct desselben vergessen sollten, und wirkt wie eine bunte, naturalistisch behandelte Basis als Piedestal eines plastischen Monuments. Bekanntlich ist bei Shakespeare der rasche Wechsel durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entschuldigt und tritt die unpoetisch ablenkende Wirkung erst ein, wo dieß mit dem Reichthum unserer scenischen Mittel nachgeahmt wird.
Dagegen steht als unverbrüchliches Gesetz die straffe Einheit der Hand- lung fest. Die Handlung zerlegt sich in untergeordnete Handlungen, es geschieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächst die verschiedenen Er- eignisse nebeneinander getrennt herzulaufen scheinen. Im Wilh. Tell z. B. wird auf verschiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. s. w. Die Einheit muß zeitig diese Fäden zusammenfassen und ihnen ihr bindendes Centrum geben. Von Beispielen, wie ein Faden sich trennt, das Interesse von der Haupthandlung abzieht und störend nach einer andern wendet, stehe hier statt vieler die Ausweichung vom heroischen Inhalt zu einer Liebesgeschichte und Collision der Leidenschaft im Götz von Berlichingen; von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1 ein Beispiel aufgestellt im König Lear. Shakespeare liebt diese Compositions- weise namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Ineinandergreifen der einzelnen Handlungen und durch Contraste fest und täuschend die zwei Bestandtheile, aber doch nur pragmatisch, nicht wahrhaft innerlich; die
ſchwunden zu denken ſind, und Perſonen, die im erſten Act als Jünglinge auftreten, im letzten als graue Greiſe vorführen. Die Idealiſirung der Zeit iſt, wie alles Schöne, eine Zuſammenziehung und derſelbe Begriff gilt zu- nächſt auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos zieht ſich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne zuſammen, die empiriſche Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo der höchſte Lebens-Inhalt ſich auf den gegenwärtigen ſchmalen Punct ver- dichtet, gar keine Exiſtenz. Allein die Phantaſie, von innen heraus arbeitend, dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus ſetzend, kann mit ihren geiſtigen Schwingen dieſen Inhalt in jedem Moment auf einen andern Punct des Raums hinübertragen; iſt nur der innere Zuſam- menhang gerechtfertigt, ſo mag das Wo durch die mitwirkenden äußern Motive beſtimmt werden. So wird hier die Idealiſirung zum freien Wechſel, allein der Begriff der Zuſammenziehung erhält ſich, tritt noch einmal auf. Willkür im Gebrauche dieſer Freiheit iſt nämlich ihr ſelbſt im Wege, indem ſie gerade an die empiriſche Wirklichkeit erinnert, wo ſie in idealem Schwung über ſie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechſel des Orts beunruhigt, erinnert durch dieſe Unruhe an die proſaiſche Arbeit der gemeinen Raumüberwindung, weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Con- centration der Handlung auf einen Punct deſſelben vergeſſen ſollten, und wirkt wie eine bunte, naturaliſtiſch behandelte Baſis als Piedeſtal eines plaſtiſchen Monuments. Bekanntlich iſt bei Shakespeare der raſche Wechſel durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entſchuldigt und tritt die unpoetiſch ablenkende Wirkung erſt ein, wo dieß mit dem Reichthum unſerer ſceniſchen Mittel nachgeahmt wird.
Dagegen ſteht als unverbrüchliches Geſetz die ſtraffe Einheit der Hand- lung feſt. Die Handlung zerlegt ſich in untergeordnete Handlungen, es geſchieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächſt die verſchiedenen Er- eigniſſe nebeneinander getrennt herzulaufen ſcheinen. Im Wilh. Tell z. B. wird auf verſchiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. ſ. w. Die Einheit muß zeitig dieſe Fäden zuſammenfaſſen und ihnen ihr bindendes Centrum geben. Von Beiſpielen, wie ein Faden ſich trennt, das Intereſſe von der Haupthandlung abzieht und ſtörend nach einer andern wendet, ſtehe hier ſtatt vieler die Ausweichung vom heroiſchen Inhalt zu einer Liebesgeſchichte und Colliſion der Leidenſchaft im Götz von Berlichingen; von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1 ein Beiſpiel aufgeſtellt im König Lear. Shakespeare liebt dieſe Compoſitions- weiſe namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Ineinandergreifen der einzelnen Handlungen und durch Contraſte feſt und täuſchend die zwei Beſtandtheile, aber doch nur pragmatiſch, nicht wahrhaft innerlich; die
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iſt, wie alles Schöne, eine Zuſammenziehung und derſelbe Begriff gilt zu-
nächſt auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos
zieht ſich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne
zuſammen, die empiriſche Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo
der höchſte Lebens-Inhalt ſich auf den gegenwärtigen ſchmalen Punct ver-
dichtet, gar keine Exiſtenz. Allein die Phantaſie, von innen heraus arbeitend,
dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus ſetzend,
kann mit ihren geiſtigen Schwingen dieſen Inhalt in jedem Moment auf
einen andern Punct des Raums hinübertragen; iſt nur der innere Zuſam-
menhang gerechtfertigt, ſo mag das Wo durch die mitwirkenden äußern
Motive beſtimmt werden. So wird hier die Idealiſirung zum freien Wechſel,
allein der Begriff der Zuſammenziehung erhält ſich, tritt noch einmal auf.
Willkür im Gebrauche dieſer Freiheit iſt nämlich ihr ſelbſt im Wege, indem
ſie gerade an die empiriſche Wirklichkeit erinnert, wo ſie in idealem Schwung
über ſie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechſel des Orts beunruhigt, erinnert
durch dieſe Unruhe an die proſaiſche Arbeit der gemeinen Raumüberwindung,
weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Con-
centration der Handlung auf einen Punct deſſelben vergeſſen ſollten, und
wirkt wie eine bunte, naturaliſtiſch behandelte Baſis als Piedeſtal eines
plaſtiſchen Monuments. Bekanntlich iſt bei Shakespeare der raſche Wechſel
durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entſchuldigt und tritt
die unpoetiſch ablenkende Wirkung erſt ein, wo dieß mit dem Reichthum
unſerer ſceniſchen Mittel nachgeahmt wird.
Dagegen ſteht als unverbrüchliches Geſetz die ſtraffe Einheit der Hand-
lung feſt. Die Handlung zerlegt ſich in untergeordnete Handlungen, es
geſchieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächſt die verſchiedenen Er-
eigniſſe nebeneinander getrennt herzulaufen ſcheinen. Im Wilh. Tell z. B.
wird auf verſchiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem
Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. ſ. w. Die
Einheit muß zeitig dieſe Fäden zuſammenfaſſen und ihnen ihr bindendes
Centrum geben. Von Beiſpielen, wie ein Faden ſich trennt, das Intereſſe
von der Haupthandlung abzieht und ſtörend nach einer andern wendet,
ſtehe hier ſtatt vieler die Ausweichung vom heroiſchen Inhalt zu einer
Liebesgeſchichte und Colliſion der Leidenſchaft im Götz von Berlichingen;
von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1
ein Beiſpiel aufgeſtellt im König Lear. Shakespeare liebt dieſe Compoſitions-
weiſe namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Ineinandergreifen
der einzelnen Handlungen und durch Contraſte feſt und täuſchend die zwei
Beſtandtheile, aber doch nur pragmatiſch, nicht wahrhaft innerlich; die
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/260>, abgerufen am 22.11.2024.
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