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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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eine bestimmte zu isoliren, wenn dagegen die Auffassung des Dichters sich
in das Ganze der Erscheinung legt. Dieser Satz ist hier aus der Lehre
von der Phantasie ausdrücklich wieder aufzunehmen, welche in §. 404 auf
Grundlage der Darstellung des Wesens derselben jene innern Unterschiede
aufgeführt hat, die darauf beruhen, daß die Phantasie als Ganzes sich
entweder auf den Standpunct des einen oder andern ihrer Momente stellt
oder in den Inbegriff dieser Momente legt; und darauf eben beruht ja die
Theilung der Kunst in Künste (§. 535). Es sind aber in §. 404 zwei
Linien der Eintheilung aufgestellt, welche entsprechend nebeneinander laufen:
die eine, ebengenannte, ist genommen aus den Weisen des Verhaltens zum
äußern Object, welche der innerlich frei gestaltenden Thätigkeit vorausgesetzt
sind, die andere aus dieser selbst; so gründet sich die bildende Phantasie
auf den Standpunct der Anschauung in der ersten, auf den der Einbildungs-
kraft in der zweiten Linie, die empfindende auf die Seite der innigen, mit
dem Gehörssinn auffassenden Aneignung des angeschauten Gegenstands in
der ersten, auf die Stimmungsseite der Begeisterung in der zweiten; was
nun die dichtende betrifft, so ist jetzt genauer zu bestimmen, wie es hier mit
den zwei Begründungslinien sich verhalte. Der geborene Dichter schaut
denn allerdings zum Voraus anders an, als der bildende Künstler und der
Musiker; Gestalt und Ton, jede Bewegung, jede Aeußerung des Lebens
umfaßt er, wie schon gesagt, mit gleich aufmerksamen Sinnen. Allein
schon in §. 404 ist zu der Bestimmung: "die ganze ideal gesetzte Sinn-
lichkeit" gefügt "und die reichste geistige Bewegung aller ihrer Mittel."
Der Künstler, der sich nicht auf einen bestimmten Sinn isolirt, sieht es
schon in seiner Auffassung auf eine Kunst ab, welche, weil dem äußern
Sinne niemals alle Erscheinungsseiten zugleich dargestellt werden können,
nur für den innern darstellt und die Totalität der Erscheinung wesentlich
in geistige Einheit zusammenfaßt, das Ganze des Lebens, ergriffen im geistigen
Centrum, nachbildet. Von diesem Centrum laufen die Strahlen in gleicher
Kraft nach allen Seiten der Erscheinung; jede Weise, sie wahrzunehmen,
kann bedeutend werden, ist bedeutend, jeder Punct der Peripherie führt in
das Innere, jeder Nerv betheiligt sich in der Aufnahme. Also nur darum
ist hier die ganze Sinnlichkeit berechtigt und berufen, weil sie schon als
Sinnlichkeit Alles geistig betont, weil jeder ihrer Töne unmittelbare Reso-
nanz im Geiste hat, weil in jedem Ergreifen des Gegenstands die Tiefe
dieser Beziehung vorbehalten ist, ja miterfolgt. Dieß ist eben dadurch bereits
ausgesprochen, daß der Dichter die subjective Innerlichkeit der Musik mit
der objectiven Gestaltung der bildenden Kunst vereinigen soll. Sehen wir
nun genauer auf jene zwei Linien zurück, so ist die ganze Sinnlichkeit,
womit der Dichter anschaut, darum bereits auch die verinnerlichte, ideal
gesetzte, also die Einbildungskraft, weil die Totalität der Anschauung sogleich

eine beſtimmte zu iſoliren, wenn dagegen die Auffaſſung des Dichters ſich
in das Ganze der Erſcheinung legt. Dieſer Satz iſt hier aus der Lehre
von der Phantaſie ausdrücklich wieder aufzunehmen, welche in §. 404 auf
Grundlage der Darſtellung des Weſens derſelben jene innern Unterſchiede
aufgeführt hat, die darauf beruhen, daß die Phantaſie als Ganzes ſich
entweder auf den Standpunct des einen oder andern ihrer Momente ſtellt
oder in den Inbegriff dieſer Momente legt; und darauf eben beruht ja die
Theilung der Kunſt in Künſte (§. 535). Es ſind aber in §. 404 zwei
Linien der Eintheilung aufgeſtellt, welche entſprechend nebeneinander laufen:
die eine, ebengenannte, iſt genommen aus den Weiſen des Verhaltens zum
äußern Object, welche der innerlich frei geſtaltenden Thätigkeit vorausgeſetzt
ſind, die andere aus dieſer ſelbſt; ſo gründet ſich die bildende Phantaſie
auf den Standpunct der Anſchauung in der erſten, auf den der Einbildungs-
kraft in der zweiten Linie, die empfindende auf die Seite der innigen, mit
dem Gehörsſinn auffaſſenden Aneignung des angeſchauten Gegenſtands in
der erſten, auf die Stimmungsſeite der Begeiſterung in der zweiten; was
nun die dichtende betrifft, ſo iſt jetzt genauer zu beſtimmen, wie es hier mit
den zwei Begründungslinien ſich verhalte. Der geborene Dichter ſchaut
denn allerdings zum Voraus anders an, als der bildende Künſtler und der
Muſiker; Geſtalt und Ton, jede Bewegung, jede Aeußerung des Lebens
umfaßt er, wie ſchon geſagt, mit gleich aufmerkſamen Sinnen. Allein
ſchon in §. 404 iſt zu der Beſtimmung: „die ganze ideal geſetzte Sinn-
lichkeit“ gefügt „und die reichſte geiſtige Bewegung aller ihrer Mittel.“
Der Künſtler, der ſich nicht auf einen beſtimmten Sinn iſolirt, ſieht es
ſchon in ſeiner Auffaſſung auf eine Kunſt ab, welche, weil dem äußern
Sinne niemals alle Erſcheinungsſeiten zugleich dargeſtellt werden können,
nur für den innern darſtellt und die Totalität der Erſcheinung weſentlich
in geiſtige Einheit zuſammenfaßt, das Ganze des Lebens, ergriffen im geiſtigen
Centrum, nachbildet. Von dieſem Centrum laufen die Strahlen in gleicher
Kraft nach allen Seiten der Erſcheinung; jede Weiſe, ſie wahrzunehmen,
kann bedeutend werden, iſt bedeutend, jeder Punct der Peripherie führt in
das Innere, jeder Nerv betheiligt ſich in der Aufnahme. Alſo nur darum
iſt hier die ganze Sinnlichkeit berechtigt und berufen, weil ſie ſchon als
Sinnlichkeit Alles geiſtig betont, weil jeder ihrer Töne unmittelbare Reſo-
nanz im Geiſte hat, weil in jedem Ergreifen des Gegenſtands die Tiefe
dieſer Beziehung vorbehalten iſt, ja miterfolgt. Dieß iſt eben dadurch bereits
ausgeſprochen, daß der Dichter die ſubjective Innerlichkeit der Muſik mit
der objectiven Geſtaltung der bildenden Kunſt vereinigen ſoll. Sehen wir
nun genauer auf jene zwei Linien zurück, ſo iſt die ganze Sinnlichkeit,
womit der Dichter anſchaut, darum bereits auch die verinnerlichte, ideal
geſetzte, alſo die Einbildungskraft, weil die Totalität der Anſchauung ſogleich

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[1162/0026] eine beſtimmte zu iſoliren, wenn dagegen die Auffaſſung des Dichters ſich in das Ganze der Erſcheinung legt. Dieſer Satz iſt hier aus der Lehre von der Phantaſie ausdrücklich wieder aufzunehmen, welche in §. 404 auf Grundlage der Darſtellung des Weſens derſelben jene innern Unterſchiede aufgeführt hat, die darauf beruhen, daß die Phantaſie als Ganzes ſich entweder auf den Standpunct des einen oder andern ihrer Momente ſtellt oder in den Inbegriff dieſer Momente legt; und darauf eben beruht ja die Theilung der Kunſt in Künſte (§. 535). Es ſind aber in §. 404 zwei Linien der Eintheilung aufgeſtellt, welche entſprechend nebeneinander laufen: die eine, ebengenannte, iſt genommen aus den Weiſen des Verhaltens zum äußern Object, welche der innerlich frei geſtaltenden Thätigkeit vorausgeſetzt ſind, die andere aus dieſer ſelbſt; ſo gründet ſich die bildende Phantaſie auf den Standpunct der Anſchauung in der erſten, auf den der Einbildungs- kraft in der zweiten Linie, die empfindende auf die Seite der innigen, mit dem Gehörsſinn auffaſſenden Aneignung des angeſchauten Gegenſtands in der erſten, auf die Stimmungsſeite der Begeiſterung in der zweiten; was nun die dichtende betrifft, ſo iſt jetzt genauer zu beſtimmen, wie es hier mit den zwei Begründungslinien ſich verhalte. Der geborene Dichter ſchaut denn allerdings zum Voraus anders an, als der bildende Künſtler und der Muſiker; Geſtalt und Ton, jede Bewegung, jede Aeußerung des Lebens umfaßt er, wie ſchon geſagt, mit gleich aufmerkſamen Sinnen. Allein ſchon in §. 404 iſt zu der Beſtimmung: „die ganze ideal geſetzte Sinn- lichkeit“ gefügt „und die reichſte geiſtige Bewegung aller ihrer Mittel.“ Der Künſtler, der ſich nicht auf einen beſtimmten Sinn iſolirt, ſieht es ſchon in ſeiner Auffaſſung auf eine Kunſt ab, welche, weil dem äußern Sinne niemals alle Erſcheinungsſeiten zugleich dargeſtellt werden können, nur für den innern darſtellt und die Totalität der Erſcheinung weſentlich in geiſtige Einheit zuſammenfaßt, das Ganze des Lebens, ergriffen im geiſtigen Centrum, nachbildet. Von dieſem Centrum laufen die Strahlen in gleicher Kraft nach allen Seiten der Erſcheinung; jede Weiſe, ſie wahrzunehmen, kann bedeutend werden, iſt bedeutend, jeder Punct der Peripherie führt in das Innere, jeder Nerv betheiligt ſich in der Aufnahme. Alſo nur darum iſt hier die ganze Sinnlichkeit berechtigt und berufen, weil ſie ſchon als Sinnlichkeit Alles geiſtig betont, weil jeder ihrer Töne unmittelbare Reſo- nanz im Geiſte hat, weil in jedem Ergreifen des Gegenſtands die Tiefe dieſer Beziehung vorbehalten iſt, ja miterfolgt. Dieß iſt eben dadurch bereits ausgeſprochen, daß der Dichter die ſubjective Innerlichkeit der Muſik mit der objectiven Geſtaltung der bildenden Kunſt vereinigen ſoll. Sehen wir nun genauer auf jene zwei Linien zurück, ſo iſt die ganze Sinnlichkeit, womit der Dichter anſchaut, darum bereits auch die verinnerlichte, ideal geſetzte, alſo die Einbildungskraft, weil die Totalität der Anſchauung ſogleich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/26>, abgerufen am 26.04.2024.