besonderen Seiten können und sollen nicht zu der wirklichen Entfaltung kommen, wie im Epos, sondern durch ihre Verschlingung abgekürzt auf das Eine Ziel losdrängen. Diese Ineinanderarbeitung des bestimmenden Pathos und der reichen Persönlichkeit tritt in's stärkste Licht, wenn jenes einen Charakter ergreift, der ihm ursprünglich widerstrebt, wenn seine Natur und die Leidenschaft einander nur schwer und langsam annehmen, wie Othello's arg- loses, großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das Amalgam vollendet ist, erscheint der ganze Charakter in um so tieferem und gewaltsamerem Aufruhr. Es ist dieß der Fall, wo derselbe im Drama eine solche Wendung nimmt, daß seine Kräfte um ein neues Centrum sich vereini- gen; von dieser stärksten Form des Umschlags eines Charakters ist wohl zu unterscheiden eine andere, wo er innerhalb seines ursprünglichen Centrums und natürlichen Pathos durch Schicksalserfahrungen zu einer Krise gesteigert wird, die seine ganze Stimmung, seinen Zustand verändert, wie z. B. König Lear. Ein mittlerer Fall ist der, wenn der Keim zu einem Umschlag, welcher das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in diesem schon vorher tiefer angelegt war, als es schien, wie im Makbeth, dem ungleichen tragischen Bruder Richard's III, der als reifer, hart geschmiedeter Bösewicht von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit einem Pathos, das den Anspruch macht, sich seiner ganz zu bemächtigen, sich doch wesentlich gleich bleibt, steht fast einzig in der Geschichte der Tra- gödie. Die einfachste Form der Steigerung im ursprünglichen Centrum ist das Anwachsen zum höchsten Pathos der Liebe; es setzt jugendliche Naturen voraus, die nicht vorher schon zu markirter Reife gelangt sind, wie Romeo. Ein anderer Theil der dramatischen Charaktere bringt dagegen völlig reife Gestalt nicht nur sogleich mit, sondern verharrt auch darin, so daß seine Handlungen einfach aus der gegebenen festen Bestimmtheit hervorgehen. Soll dieß aber von der Hauptperson gelten, so muß doch die That, die zur Katastrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden sein, die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann, wie bei Wallenstein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. -- Der Zweck, welcher der Hebel der dramatischen Handlung ist, setzt den Gegenzweck voraus, beide legen sich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller's Wilhelm Tell. Die Idee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der entscheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenschaft, der berathenden männ- lichen Klugheit auseinander: das erste in Tell, das zweite in Melchthal, das dritte in Stauffacher, W. Fürst und einer Anzahl weniger bestimmt hervortretender Personen; Jäger, Hirten, Fischer, Landleute, ihre Klagen und Leiden sind nothwendig, den Gesammtzustand zur Darstellung zu bringen. Weiblicher Heroismus, in mildem Contraste dem stilleren Familiensinne
beſonderen Seiten können und ſollen nicht zu der wirklichen Entfaltung kommen, wie im Epos, ſondern durch ihre Verſchlingung abgekürzt auf das Eine Ziel losdrängen. Dieſe Ineinanderarbeitung des beſtimmenden Pathos und der reichen Perſönlichkeit tritt in’s ſtärkſte Licht, wenn jenes einen Charakter ergreift, der ihm urſprünglich widerſtrebt, wenn ſeine Natur und die Leidenſchaft einander nur ſchwer und langſam annehmen, wie Othello’s arg- loſes, großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das Amalgam vollendet iſt, erſcheint der ganze Charakter in um ſo tieferem und gewaltſamerem Aufruhr. Es iſt dieß der Fall, wo derſelbe im Drama eine ſolche Wendung nimmt, daß ſeine Kräfte um ein neues Centrum ſich vereini- gen; von dieſer ſtärkſten Form des Umſchlags eines Charakters iſt wohl zu unterſcheiden eine andere, wo er innerhalb ſeines urſprünglichen Centrums und natürlichen Pathos durch Schickſalserfahrungen zu einer Kriſe geſteigert wird, die ſeine ganze Stimmung, ſeinen Zuſtand verändert, wie z. B. König Lear. Ein mittlerer Fall iſt der, wenn der Keim zu einem Umſchlag, welcher das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in dieſem ſchon vorher tiefer angelegt war, als es ſchien, wie im Makbeth, dem ungleichen tragiſchen Bruder Richard’s III, der als reifer, hart geſchmiedeter Böſewicht von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit einem Pathos, das den Anſpruch macht, ſich ſeiner ganz zu bemächtigen, ſich doch weſentlich gleich bleibt, ſteht faſt einzig in der Geſchichte der Tra- gödie. Die einfachſte Form der Steigerung im urſprünglichen Centrum iſt das Anwachſen zum höchſten Pathos der Liebe; es ſetzt jugendliche Naturen voraus, die nicht vorher ſchon zu markirter Reife gelangt ſind, wie Romeo. Ein anderer Theil der dramatiſchen Charaktere bringt dagegen völlig reife Geſtalt nicht nur ſogleich mit, ſondern verharrt auch darin, ſo daß ſeine Handlungen einfach aus der gegebenen feſten Beſtimmtheit hervorgehen. Soll dieß aber von der Hauptperſon gelten, ſo muß doch die That, die zur Kataſtrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden ſein, die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann, wie bei Wallenſtein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. — Der Zweck, welcher der Hebel der dramatiſchen Handlung iſt, ſetzt den Gegenzweck voraus, beide legen ſich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller’s Wilhelm Tell. Die Idee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der entſcheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenſchaft, der berathenden männ- lichen Klugheit auseinander: das erſte in Tell, das zweite in Melchthal, das dritte in Stauffacher, W. Fürſt und einer Anzahl weniger beſtimmt hervortretender Perſonen; Jäger, Hirten, Fiſcher, Landleute, ihre Klagen und Leiden ſind nothwendig, den Geſammtzuſtand zur Darſtellung zu bringen. Weiblicher Heroismus, in mildem Contraſte dem ſtilleren Familienſinne
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beſonderen Seiten können und ſollen nicht zu der wirklichen Entfaltung
kommen, wie im Epos, ſondern durch ihre Verſchlingung abgekürzt auf das
Eine Ziel losdrängen. Dieſe Ineinanderarbeitung des beſtimmenden Pathos
und der reichen Perſönlichkeit tritt in’s ſtärkſte Licht, wenn jenes einen
Charakter ergreift, der ihm urſprünglich widerſtrebt, wenn ſeine Natur und die
Leidenſchaft einander nur ſchwer und langſam annehmen, wie Othello’s arg-
loſes, großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das
Amalgam vollendet iſt, erſcheint der ganze Charakter in um ſo tieferem und
gewaltſamerem Aufruhr. Es iſt dieß der Fall, wo derſelbe im Drama eine
ſolche Wendung nimmt, daß ſeine Kräfte um ein neues Centrum ſich vereini-
gen; von dieſer ſtärkſten Form des Umſchlags eines Charakters iſt wohl zu
unterſcheiden eine andere, wo er innerhalb ſeines urſprünglichen Centrums und
natürlichen Pathos durch Schickſalserfahrungen zu einer Kriſe geſteigert wird,
die ſeine ganze Stimmung, ſeinen Zuſtand verändert, wie z. B. König Lear.
Ein mittlerer Fall iſt der, wenn der Keim zu einem Umſchlag, welcher
das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in dieſem ſchon
vorher tiefer angelegt war, als es ſchien, wie im Makbeth, dem ungleichen
tragiſchen Bruder Richard’s III, der als reifer, hart geſchmiedeter Böſewicht
von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit
einem Pathos, das den Anſpruch macht, ſich ſeiner ganz zu bemächtigen,
ſich doch weſentlich gleich bleibt, ſteht faſt einzig in der Geſchichte der Tra-
gödie. Die einfachſte Form der Steigerung im urſprünglichen Centrum iſt
das Anwachſen zum höchſten Pathos der Liebe; es ſetzt jugendliche Naturen
voraus, die nicht vorher ſchon zu markirter Reife gelangt ſind, wie Romeo.
Ein anderer Theil der dramatiſchen Charaktere bringt dagegen völlig reife
Geſtalt nicht nur ſogleich mit, ſondern verharrt auch darin, ſo daß ſeine
Handlungen einfach aus der gegebenen feſten Beſtimmtheit hervorgehen.
Soll dieß aber von der Hauptperſon gelten, ſo muß doch die That, die
zur Kataſtrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden ſein,
die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann,
wie bei Wallenſtein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. — Der Zweck,
welcher der Hebel der dramatiſchen Handlung iſt, ſetzt den Gegenzweck voraus,
beide legen ſich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in
der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller’s
Wilhelm Tell. Die Idee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der
entſcheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenſchaft, der berathenden männ-
lichen Klugheit auseinander: das erſte in Tell, das zweite in Melchthal,
das dritte in Stauffacher, W. Fürſt und einer Anzahl weniger beſtimmt
hervortretender Perſonen; Jäger, Hirten, Fiſcher, Landleute, ihre Klagen
und Leiden ſind nothwendig, den Geſammtzuſtand zur Darſtellung zu bringen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/248>, abgerufen am 22.11.2024.
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