Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
auch die Gestalt der Personen und ihre Gebärden zu veranschaulichen, dieß Blicken wir nun auf das Innere des Dichters zurück, dessen Einströ-
auch die Geſtalt der Perſonen und ihre Gebärden zu veranſchaulichen, dieß Blicken wir nun auf das Innere des Dichters zurück, deſſen Einſtrö- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0243" n="1379"/> auch die Geſtalt der Perſonen und ihre Gebärden zu veranſchaulichen, dieß<lb/> geht aber faſt nur die Bühnendarſtellung an und kommt neben dem Weſent-<lb/> lichen, was er als Dichter zu thun hat, gar nicht in Anſchlag. Er läßt<lb/> die äußere Umgebung und die Erſcheinung ſeiner Charaktere durch dieſe<lb/> ſelbſt mit einzelnen Zügen zeichnen: dieß iſt bereits ein integrirender, aber<lb/> gegenüber demſelben Verfahren in der epiſchen Poeſie ganz klein zuſammen-<lb/> gehender Theil ſeines Verfahrens. Das Weſentliche iſt vielmehr: die<lb/> Charaktere müſſen von ihm ſo lebendig geſchaut ſein, daß ſie das Bild<lb/> ihrer äußern Erſcheinung und Bewegung für unſere Phantaſie ohne weiteres<lb/> Zuthun nöthigend mitbringen. Einen wahrhaft organiſch aus ſeinem Centrum<lb/> herauswirkenden dramatiſchen Charakter ſehen wir im bloßen Leſen ſo deutlich<lb/> vor Augen, daß wir meinen, ihn greifen zu können. Die Häufung jener<lb/> Anmerkungen in der neueren dramatiſchen Literatur beweist mit dem Miß-<lb/> trauen zu unſerer und des Schauſpielers Phantaſie nur den Unglauben an<lb/> die eigene. Die Energie der vollen Gegenwart, womit die Perſönlichkeit<lb/> im Drama vor uns tritt, gibt ihr bei allem Unterſchied der Künſte eine<lb/> Verwandtſchaft mit der Sculpturgeſtalt. Die epiſche Schilderung gleicht<lb/> mehr dem Gemälde, dem Auftrag auf der Fläche. Die Sculpturgeſtalt<lb/> erſcheint wie aus einem geiſtigen unerforſchlichen Grunde in den Raum<lb/> hereingewachſen, ſo baut ſich aus ſeinem geiſtigen Kerne heraus vor unſerem<lb/> inneren Auge der dramatiſche Charakter und ſtellt ſich feſt, klar abgeſchnitten<lb/> in den idealen Raum der inneren Vorſtellung.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Blicken wir nun auf das Innere des Dichters zurück, deſſen Einſtrö-<lb/> men in ſeine Perſonen wir zunächſt zu dem Lyriſchen im Drama geſtellt<lb/> haben, ſo erhellt aus dieſer veränderten Stellung, daß es ſelbſt eine Welt<lb/> ſein muß, wenn es, mit dem ſo umgebildeten Epiſchen ſo verbunden, ein<lb/> Weltbild ſoll geben können. Was das heißt, zeigt Keiner, wie Shakespeare,<lb/> dieſer centrale Menſch, der den Menſchen und den Dingen unbegreiflich in’s<lb/> Herz ſieht, dieſes Individuum, das alle Formen der Menſchheit durchwan-<lb/> delt zu haben, Kind und Greis, Mann und Weib, Knecht und Fürſt,<lb/> Krieger und Staatsmann ſelbſt geweſen zu ſein, ihre Schickſale ſelbſt erlebt<lb/> zu haben und ſich ſo zur Gattung zu erweitern ſcheint. Keine Kunſtform<lb/> verſetzt uns ſo in die Zuſtände wie das Drama, das ſie uns gegenwärtig<lb/> vorſtellt. Der Lyriker führt uns nur in <hi rendition="#g">ſein</hi> Gemüth und nur in ſein<lb/><hi rendition="#g">Gemüth</hi>, nicht in ſeine <hi rendition="#g">ganze</hi> Perſönlichkeit, weil er nicht handelt.<lb/> Göthe’s Wort: bei Shakespeare könne man ſehen wie den Menſchen zu<lb/> Muthe iſt, ſcheint wenig zu ſagen und ſagt unendlich viel. Dagegen kann<lb/> man an Schiller, — deſſen übrige Größe darum doch unbeſtritten bleibt —<lb/> negativ erkennen, was der Prozeß der völligen Entäußerung des dichteri-<lb/> ſchen Subjects beſagen will. Er gießt rhetoriſch ſeine ideale Anſchauung,<lb/> ſein ſchönes Gemüth in ſeine Perſonen, man vernimmt ihn ſelbſt, wie er<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1379/0243]
auch die Geſtalt der Perſonen und ihre Gebärden zu veranſchaulichen, dieß
geht aber faſt nur die Bühnendarſtellung an und kommt neben dem Weſent-
lichen, was er als Dichter zu thun hat, gar nicht in Anſchlag. Er läßt
die äußere Umgebung und die Erſcheinung ſeiner Charaktere durch dieſe
ſelbſt mit einzelnen Zügen zeichnen: dieß iſt bereits ein integrirender, aber
gegenüber demſelben Verfahren in der epiſchen Poeſie ganz klein zuſammen-
gehender Theil ſeines Verfahrens. Das Weſentliche iſt vielmehr: die
Charaktere müſſen von ihm ſo lebendig geſchaut ſein, daß ſie das Bild
ihrer äußern Erſcheinung und Bewegung für unſere Phantaſie ohne weiteres
Zuthun nöthigend mitbringen. Einen wahrhaft organiſch aus ſeinem Centrum
herauswirkenden dramatiſchen Charakter ſehen wir im bloßen Leſen ſo deutlich
vor Augen, daß wir meinen, ihn greifen zu können. Die Häufung jener
Anmerkungen in der neueren dramatiſchen Literatur beweist mit dem Miß-
trauen zu unſerer und des Schauſpielers Phantaſie nur den Unglauben an
die eigene. Die Energie der vollen Gegenwart, womit die Perſönlichkeit
im Drama vor uns tritt, gibt ihr bei allem Unterſchied der Künſte eine
Verwandtſchaft mit der Sculpturgeſtalt. Die epiſche Schilderung gleicht
mehr dem Gemälde, dem Auftrag auf der Fläche. Die Sculpturgeſtalt
erſcheint wie aus einem geiſtigen unerforſchlichen Grunde in den Raum
hereingewachſen, ſo baut ſich aus ſeinem geiſtigen Kerne heraus vor unſerem
inneren Auge der dramatiſche Charakter und ſtellt ſich feſt, klar abgeſchnitten
in den idealen Raum der inneren Vorſtellung.
Blicken wir nun auf das Innere des Dichters zurück, deſſen Einſtrö-
men in ſeine Perſonen wir zunächſt zu dem Lyriſchen im Drama geſtellt
haben, ſo erhellt aus dieſer veränderten Stellung, daß es ſelbſt eine Welt
ſein muß, wenn es, mit dem ſo umgebildeten Epiſchen ſo verbunden, ein
Weltbild ſoll geben können. Was das heißt, zeigt Keiner, wie Shakespeare,
dieſer centrale Menſch, der den Menſchen und den Dingen unbegreiflich in’s
Herz ſieht, dieſes Individuum, das alle Formen der Menſchheit durchwan-
delt zu haben, Kind und Greis, Mann und Weib, Knecht und Fürſt,
Krieger und Staatsmann ſelbſt geweſen zu ſein, ihre Schickſale ſelbſt erlebt
zu haben und ſich ſo zur Gattung zu erweitern ſcheint. Keine Kunſtform
verſetzt uns ſo in die Zuſtände wie das Drama, das ſie uns gegenwärtig
vorſtellt. Der Lyriker führt uns nur in ſein Gemüth und nur in ſein
Gemüth, nicht in ſeine ganze Perſönlichkeit, weil er nicht handelt.
Göthe’s Wort: bei Shakespeare könne man ſehen wie den Menſchen zu
Muthe iſt, ſcheint wenig zu ſagen und ſagt unendlich viel. Dagegen kann
man an Schiller, — deſſen übrige Größe darum doch unbeſtritten bleibt —
negativ erkennen, was der Prozeß der völligen Entäußerung des dichteri-
ſchen Subjects beſagen will. Er gießt rhetoriſch ſeine ideale Anſchauung,
ſein ſchönes Gemüth in ſeine Perſonen, man vernimmt ihn ſelbſt, wie er
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