Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
des Volkslieds, seine Mängel und seine Schönheiten, zu denen in §. 886 §. 893. 1. Es widerspricht dieser Natur des Liedes nicht, daß es bestimmte objective
des Volkslieds, ſeine Mängel und ſeine Schönheiten, zu denen in §. 886 §. 893. 1. Es widerſpricht dieſer Natur des Liedes nicht, daß es beſtimmte objective <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0222" n="1358"/> des Volkslieds, ſeine Mängel und ſeine Schönheiten, zu denen in §. 886<lb/> noch der weitere der überall lebendig fühlbaren Situation, der Lebenswahr-<lb/> heit gefügt worden iſt. Man kann die Mängel in dem Bilde zuſammen-<lb/> faſſen, daß das Volkslied durchaus einen Erd- und Wurzel-Geruch mit ſich<lb/> führt, daß man die Blume nie ohne dieſen Beigeſchmack bekommt, dafür<lb/> hat ſie ſelbſt um ſo friſcheren Duft. Die Kunſtdichtung, die nicht periodiſch<lb/> aus dem friſchen Boden dieſer Waldblume ſich verjüngt, bildet nur ſeidene<lb/> Blumen. Sie wird vor Allem ſich zu ſehr dem entwickelnden, hell beleuch-<lb/> tenden Styl hingeben, ausmalen, beweiſen, rationell aufzeigen; dort lernt<lb/> ſie den ächten, helldunkeln, ſpringenden Styl, wie er freilich bis zum<lb/> unkünſtleriſch Verworrenen, Unverſtandenen, Zuſammenhangsloſen fortgeht,<lb/> an ſpezifiſchen Taktloſigkeiten leidet, der Volkstracht ähnlich, die in ſo vielen<lb/> Gegenden nicht weiß, wo die Taille hingehört, die aber auch nie gemacht,<lb/> immer wahre Natur iſt. Das Volkslied iſt Gemeingut aller culturfähigen<lb/> Völker; außer den ſchon genannten iſt namentlich die ſlaviſche Nation reich,<lb/> die weichen und wehmüthigen Klänge ihrer verſchiedenen Stämme haben<lb/> aber nicht das Mark der germaniſchen. Die Verjüngung der Kunſtpoeſie<lb/> durch die Volkspoeſie geſchieht namentlich auch durch Wechſelwirkung der<lb/> Literaturen, durch die Erkenntniß, daß die Dichtkunſt „eine Welt- und<lb/> Völkergabe“ iſt. Kein Moment der Einwirkung des Volkslieds auf die<lb/> Kunſtdichtung war ſo bedeutend, als der, da Percy’s Sammlung in Eng-<lb/> land, ſtärker und früher noch entſcheidend in Deutſchland zündete, die<lb/> Göttingerſchule zu den erſten friſcheren Lauten geweckt wurde, Bürger die<lb/> erſte wahre Ballade dichtete, Herder die Stimmen der Völker ſammelte und<lb/> Göthe’s Genius ſich zu dieſem friſchen Borne beugte, um zu trinken.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 893.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1.</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Es widerſpricht dieſer Natur des Liedes nicht, daß es beſtimmte <hi rendition="#g">objective</hi><lb/> Formen hervorbringt, vielmehr ſie zeigt ſich gerade dadurch, daß ſie das Gegen-<lb/><note place="left">2.</note>theil des Subjectiven ſetzt und doch ganz in ihren Stimmungston taucht. Die<lb/> eine Art der Objectivität beſteht darin, daß der Dichter einen Gemüthszuſtand<lb/> nicht als den ſeinigen, ſondern den einer andern Perſon ausſpricht, oder daß<lb/> er in eigener Perſon vortragend ein Sittenbild oder ein Naturbild gibt; die<lb/><note place="left">3.</note>andere iſt epiſch in dem beſtimmten Sinne des Worts, daß eine ergreifende<lb/> Handlung als <hi rendition="#g">vergangen</hi> erzählt wird, wobei der Gegenſatz der Style an<lb/> die ſchwankende Unterſcheidung von <hi rendition="#g">Ballade</hi> und <hi rendition="#g">Romanze</hi> ſich unbeſtimmt<lb/> anlehnt und das Lyriſche als Dialog durchbrechend auch dem Dramatiſchen ſich<lb/><note place="left">4.</note>nähert. Die meiſten dieſer Formen, namentlich die letzte, gehören ſowohl der<lb/> Volkspoeſie, als der Kunſtpoeſie an.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1358/0222]
des Volkslieds, ſeine Mängel und ſeine Schönheiten, zu denen in §. 886
noch der weitere der überall lebendig fühlbaren Situation, der Lebenswahr-
heit gefügt worden iſt. Man kann die Mängel in dem Bilde zuſammen-
faſſen, daß das Volkslied durchaus einen Erd- und Wurzel-Geruch mit ſich
führt, daß man die Blume nie ohne dieſen Beigeſchmack bekommt, dafür
hat ſie ſelbſt um ſo friſcheren Duft. Die Kunſtdichtung, die nicht periodiſch
aus dem friſchen Boden dieſer Waldblume ſich verjüngt, bildet nur ſeidene
Blumen. Sie wird vor Allem ſich zu ſehr dem entwickelnden, hell beleuch-
tenden Styl hingeben, ausmalen, beweiſen, rationell aufzeigen; dort lernt
ſie den ächten, helldunkeln, ſpringenden Styl, wie er freilich bis zum
unkünſtleriſch Verworrenen, Unverſtandenen, Zuſammenhangsloſen fortgeht,
an ſpezifiſchen Taktloſigkeiten leidet, der Volkstracht ähnlich, die in ſo vielen
Gegenden nicht weiß, wo die Taille hingehört, die aber auch nie gemacht,
immer wahre Natur iſt. Das Volkslied iſt Gemeingut aller culturfähigen
Völker; außer den ſchon genannten iſt namentlich die ſlaviſche Nation reich,
die weichen und wehmüthigen Klänge ihrer verſchiedenen Stämme haben
aber nicht das Mark der germaniſchen. Die Verjüngung der Kunſtpoeſie
durch die Volkspoeſie geſchieht namentlich auch durch Wechſelwirkung der
Literaturen, durch die Erkenntniß, daß die Dichtkunſt „eine Welt- und
Völkergabe“ iſt. Kein Moment der Einwirkung des Volkslieds auf die
Kunſtdichtung war ſo bedeutend, als der, da Percy’s Sammlung in Eng-
land, ſtärker und früher noch entſcheidend in Deutſchland zündete, die
Göttingerſchule zu den erſten friſcheren Lauten geweckt wurde, Bürger die
erſte wahre Ballade dichtete, Herder die Stimmen der Völker ſammelte und
Göthe’s Genius ſich zu dieſem friſchen Borne beugte, um zu trinken.
§. 893.
Es widerſpricht dieſer Natur des Liedes nicht, daß es beſtimmte objective
Formen hervorbringt, vielmehr ſie zeigt ſich gerade dadurch, daß ſie das Gegen-
theil des Subjectiven ſetzt und doch ganz in ihren Stimmungston taucht. Die
eine Art der Objectivität beſteht darin, daß der Dichter einen Gemüthszuſtand
nicht als den ſeinigen, ſondern den einer andern Perſon ausſpricht, oder daß
er in eigener Perſon vortragend ein Sittenbild oder ein Naturbild gibt; die
andere iſt epiſch in dem beſtimmten Sinne des Worts, daß eine ergreifende
Handlung als vergangen erzählt wird, wobei der Gegenſatz der Style an
die ſchwankende Unterſcheidung von Ballade und Romanze ſich unbeſtimmt
anlehnt und das Lyriſche als Dialog durchbrechend auch dem Dramatiſchen ſich
nähert. Die meiſten dieſer Formen, namentlich die letzte, gehören ſowohl der
Volkspoeſie, als der Kunſtpoeſie an.
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