Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

"allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegossen in's früh-
welkende
Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth."

Das einzelne Werk der lyrischen Muse wird durch diese Unendlichkeit,
den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Universalen lebenden Ge-
müths zum Mikrokosmus. Allein die Kunst im Ganzen und Großen strebt
dahin, den Mikrokosmus in einem entfalteten, größeren Ausschnitte des
Makrokosmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der
Welt an und läßt ihm keine Selbständigkeit, entwickelt ihn nicht, sondern
eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da-
durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht so unbedingt, wie es Angesichts
des größeren Kunstwerks keine Welt mehr gibt, sondern die ganze Welt
jetzt hier, in diesem Bild enthalten ist, wir fühlen vielmehr den Vor-
behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge
geben kann, die erst das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er-
zeugnisse der lyrischen Dichtung summiren, das Bild der ganzen einzelnen
Persönlichkeit und ihrer Weltauffassung entspringt nur aus der Reihe ihrer
Lieder; diese Reihe neigt an sich zu Gruppen, die einen Lebenszustand erst
entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und schließen sich zum
Gesammtbilde ab. Solche Gruppen sind aber im Großen die lyrischen
Poesieen ganzer Völker, wie sie sich unterscheidend ergänzen, und nur die
lyrischen Dichtungen aller kunstsinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren
verschiedensten Puncten von der Subjectivität nach ihren verschiedensten
Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetisch durchwühlt und so die Welt im
Subject oder umgekehrt. -- Wir können dieß Alles so zusammenfassen: die
lyrische Poesie hat nicht sowohl bestimmten Körper, als bestimmten Duft.
Man vernimmt in ihr die Persönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweise
ganzer Nationen, vereinigt mit der bestimmten Natur der Gegenstände, an
die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrschender Richtung anschießt,
wie eine spezifische Atmösphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent-
schiedenen Eindruck auf den Geruchsinn vergleicht. Es ist, wie wenn man
vom Weine sagt, er habe Blume, eine bestimmte Blume, womit man aus-
drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachsen, die Zone, die
ihn gereift, in den feinsten Nerven durchfühle. Es ist vielleicht das höchste,
absolute Lob, wenn man von einem lyrischen Gedichte sagen kann, es habe
Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, diesen Duft zu finden
und zu unterscheiden.

§. 887.

Der lyrische Styl ist im Unterschiede vom epischen (vergl. §. 869) darauf
gewiesen, mehr errathen zu lassen, als auszusprechen, vom Aeußeren auf das
Innere zu deuten und daher nicht in gemessener Ruhe zu entwickeln, sondern

„allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegoſſen in’s früh-
welkende
Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.“

Das einzelne Werk der lyriſchen Muſe wird durch dieſe Unendlichkeit,
den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Univerſalen lebenden Ge-
müths zum Mikrokoſmus. Allein die Kunſt im Ganzen und Großen ſtrebt
dahin, den Mikrokoſmus in einem entfalteten, größeren Ausſchnitte des
Makrokoſmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der
Welt an und läßt ihm keine Selbſtändigkeit, entwickelt ihn nicht, ſondern
eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da-
durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht ſo unbedingt, wie es Angeſichts
des größeren Kunſtwerks keine Welt mehr gibt, ſondern die ganze Welt
jetzt hier, in dieſem Bild enthalten iſt, wir fühlen vielmehr den Vor-
behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge
geben kann, die erſt das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er-
zeugniſſe der lyriſchen Dichtung ſummiren, das Bild der ganzen einzelnen
Perſönlichkeit und ihrer Weltauffaſſung entſpringt nur aus der Reihe ihrer
Lieder; dieſe Reihe neigt an ſich zu Gruppen, die einen Lebenszuſtand erſt
entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und ſchließen ſich zum
Geſammtbilde ab. Solche Gruppen ſind aber im Großen die lyriſchen
Poeſieen ganzer Völker, wie ſie ſich unterſcheidend ergänzen, und nur die
lyriſchen Dichtungen aller kunſtſinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren
verſchiedenſten Puncten von der Subjectivität nach ihren verſchiedenſten
Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetiſch durchwühlt und ſo die Welt im
Subject oder umgekehrt. — Wir können dieß Alles ſo zuſammenfaſſen: die
lyriſche Poeſie hat nicht ſowohl beſtimmten Körper, als beſtimmten Duft.
Man vernimmt in ihr die Perſönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweiſe
ganzer Nationen, vereinigt mit der beſtimmten Natur der Gegenſtände, an
die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrſchender Richtung anſchießt,
wie eine ſpezifiſche Atmöſphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent-
ſchiedenen Eindruck auf den Geruchſinn vergleicht. Es iſt, wie wenn man
vom Weine ſagt, er habe Blume, eine beſtimmte Blume, womit man aus-
drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachſen, die Zone, die
ihn gereift, in den feinſten Nerven durchfühle. Es iſt vielleicht das höchſte,
abſolute Lob, wenn man von einem lyriſchen Gedichte ſagen kann, es habe
Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, dieſen Duft zu finden
und zu unterſcheiden.

§. 887.

Der lyriſche Styl iſt im Unterſchiede vom epiſchen (vergl. §. 869) darauf
gewieſen, mehr errathen zu laſſen, als auszuſprechen, vom Aeußeren auf das
Innere zu deuten und daher nicht in gemeſſener Ruhe zu entwickeln, ſondern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0197" n="1333"/>
&#x201E;allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gego&#x017F;&#x017F;en in&#x2019;s <hi rendition="#g">früh-<lb/>
welkende</hi> Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.&#x201C;</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Das einzelne Werk der lyri&#x017F;chen Mu&#x017F;e wird durch die&#x017F;e Unendlichkeit,<lb/>
den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Univer&#x017F;alen lebenden Ge-<lb/>
müths zum Mikroko&#x017F;mus. Allein die Kun&#x017F;t im Ganzen und Großen &#x017F;trebt<lb/>
dahin, den Mikroko&#x017F;mus in einem entfalteten, größeren Aus&#x017F;chnitte des<lb/>
Makroko&#x017F;mus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der<lb/>
Welt an und läßt ihm keine Selb&#x017F;tändigkeit, entwickelt ihn nicht, &#x017F;ondern<lb/>
eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da-<lb/>
durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht &#x017F;o unbedingt, wie es Ange&#x017F;ichts<lb/>
des größeren Kun&#x017F;twerks keine Welt mehr gibt, &#x017F;ondern die ganze Welt<lb/>
jetzt <hi rendition="#g">hier</hi>, in <hi rendition="#g">die&#x017F;em</hi> Bild enthalten i&#x017F;t, wir fühlen vielmehr den Vor-<lb/>
behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge<lb/>
geben kann, die er&#x017F;t das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er-<lb/>
zeugni&#x017F;&#x017F;e der lyri&#x017F;chen Dichtung <hi rendition="#g">&#x017F;ummiren</hi>, das Bild der ganzen einzelnen<lb/>
Per&#x017F;önlichkeit und ihrer Weltauffa&#x017F;&#x017F;ung ent&#x017F;pringt nur aus der <hi rendition="#g">Reihe</hi> ihrer<lb/>
Lieder; die&#x017F;e Reihe neigt an &#x017F;ich zu Gruppen, die einen Lebenszu&#x017F;tand er&#x017F;t<lb/>
entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und &#x017F;chließen &#x017F;ich zum<lb/>
Ge&#x017F;ammtbilde ab. Solche Gruppen &#x017F;ind aber im Großen die lyri&#x017F;chen<lb/>
Poe&#x017F;ieen ganzer Völker, wie &#x017F;ie &#x017F;ich unter&#x017F;cheidend ergänzen, und nur die<lb/>
lyri&#x017F;chen Dichtungen aller kun&#x017F;t&#x017F;innigen Nationen zeigen die Welt auf ihren<lb/>
ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Puncten von der Subjectivität nach ihren ver&#x017F;chieden&#x017F;ten<lb/>
Seiten erfaßt, durcharbeitet, poeti&#x017F;ch durchwühlt und &#x017F;o die Welt im<lb/>
Subject oder umgekehrt. &#x2014; Wir können dieß Alles &#x017F;o zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en: die<lb/>
lyri&#x017F;che Poe&#x017F;ie hat nicht &#x017F;owohl be&#x017F;timmten Körper, als be&#x017F;timmten Duft.<lb/>
Man vernimmt in ihr die Per&#x017F;önlichkeit und ihre Art, die Gefühlswei&#x017F;e<lb/>
ganzer Nationen, vereinigt mit der be&#x017F;timmten Natur der Gegen&#x017F;tände, an<lb/>
die das Gefühl im einzelnen Fall und in herr&#x017F;chender Richtung an&#x017F;chießt,<lb/>
wie eine &#x017F;pezifi&#x017F;che Atmö&#x017F;phäre, die man gern mit einem feinen, aber ent-<lb/>
&#x017F;chiedenen Eindruck auf den Geruch&#x017F;inn vergleicht. Es i&#x017F;t, wie wenn man<lb/>
vom Weine &#x017F;agt, er habe Blume, eine be&#x017F;timmte Blume, womit man aus-<lb/>
drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewach&#x017F;en, die Zone, die<lb/>
ihn gereift, in den fein&#x017F;ten Nerven durchfühle. Es i&#x017F;t vielleicht das höch&#x017F;te,<lb/>
ab&#x017F;olute Lob, wenn man von einem lyri&#x017F;chen Gedichte &#x017F;agen kann, es habe<lb/>
Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, die&#x017F;en Duft zu finden<lb/>
und zu unter&#x017F;cheiden.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 887.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Der lyri&#x017F;che <hi rendition="#g">Styl</hi> i&#x017F;t im Unter&#x017F;chiede vom epi&#x017F;chen (vergl. §. 869) darauf<lb/>
gewie&#x017F;en, mehr errathen zu la&#x017F;&#x017F;en, als auszu&#x017F;prechen, vom Aeußeren auf das<lb/>
Innere zu deuten und daher nicht in geme&#x017F;&#x017F;ener Ruhe zu entwickeln, &#x017F;ondern<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1333/0197] „allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegoſſen in’s früh- welkende Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.“ Das einzelne Werk der lyriſchen Muſe wird durch dieſe Unendlichkeit, den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Univerſalen lebenden Ge- müths zum Mikrokoſmus. Allein die Kunſt im Ganzen und Großen ſtrebt dahin, den Mikrokoſmus in einem entfalteten, größeren Ausſchnitte des Makrokoſmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der Welt an und läßt ihm keine Selbſtändigkeit, entwickelt ihn nicht, ſondern eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da- durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht ſo unbedingt, wie es Angeſichts des größeren Kunſtwerks keine Welt mehr gibt, ſondern die ganze Welt jetzt hier, in dieſem Bild enthalten iſt, wir fühlen vielmehr den Vor- behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge geben kann, die erſt das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er- zeugniſſe der lyriſchen Dichtung ſummiren, das Bild der ganzen einzelnen Perſönlichkeit und ihrer Weltauffaſſung entſpringt nur aus der Reihe ihrer Lieder; dieſe Reihe neigt an ſich zu Gruppen, die einen Lebenszuſtand erſt entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und ſchließen ſich zum Geſammtbilde ab. Solche Gruppen ſind aber im Großen die lyriſchen Poeſieen ganzer Völker, wie ſie ſich unterſcheidend ergänzen, und nur die lyriſchen Dichtungen aller kunſtſinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren verſchiedenſten Puncten von der Subjectivität nach ihren verſchiedenſten Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetiſch durchwühlt und ſo die Welt im Subject oder umgekehrt. — Wir können dieß Alles ſo zuſammenfaſſen: die lyriſche Poeſie hat nicht ſowohl beſtimmten Körper, als beſtimmten Duft. Man vernimmt in ihr die Perſönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweiſe ganzer Nationen, vereinigt mit der beſtimmten Natur der Gegenſtände, an die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrſchender Richtung anſchießt, wie eine ſpezifiſche Atmöſphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent- ſchiedenen Eindruck auf den Geruchſinn vergleicht. Es iſt, wie wenn man vom Weine ſagt, er habe Blume, eine beſtimmte Blume, womit man aus- drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachſen, die Zone, die ihn gereift, in den feinſten Nerven durchfühle. Es iſt vielleicht das höchſte, abſolute Lob, wenn man von einem lyriſchen Gedichte ſagen kann, es habe Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, dieſen Duft zu finden und zu unterſcheiden. §. 887. Der lyriſche Styl iſt im Unterſchiede vom epiſchen (vergl. §. 869) darauf gewieſen, mehr errathen zu laſſen, als auszuſprechen, vom Aeußeren auf das Innere zu deuten und daher nicht in gemeſſener Ruhe zu entwickeln, ſondern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/197
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/197>, abgerufen am 27.11.2024.