"allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegossen in's früh- welkende Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth."
Das einzelne Werk der lyrischen Muse wird durch diese Unendlichkeit, den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Universalen lebenden Ge- müths zum Mikrokosmus. Allein die Kunst im Ganzen und Großen strebt dahin, den Mikrokosmus in einem entfalteten, größeren Ausschnitte des Makrokosmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der Welt an und läßt ihm keine Selbständigkeit, entwickelt ihn nicht, sondern eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da- durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht so unbedingt, wie es Angesichts des größeren Kunstwerks keine Welt mehr gibt, sondern die ganze Welt jetzt hier, in diesem Bild enthalten ist, wir fühlen vielmehr den Vor- behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge geben kann, die erst das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er- zeugnisse der lyrischen Dichtung summiren, das Bild der ganzen einzelnen Persönlichkeit und ihrer Weltauffassung entspringt nur aus der Reihe ihrer Lieder; diese Reihe neigt an sich zu Gruppen, die einen Lebenszustand erst entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und schließen sich zum Gesammtbilde ab. Solche Gruppen sind aber im Großen die lyrischen Poesieen ganzer Völker, wie sie sich unterscheidend ergänzen, und nur die lyrischen Dichtungen aller kunstsinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren verschiedensten Puncten von der Subjectivität nach ihren verschiedensten Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetisch durchwühlt und so die Welt im Subject oder umgekehrt. -- Wir können dieß Alles so zusammenfassen: die lyrische Poesie hat nicht sowohl bestimmten Körper, als bestimmten Duft. Man vernimmt in ihr die Persönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweise ganzer Nationen, vereinigt mit der bestimmten Natur der Gegenstände, an die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrschender Richtung anschießt, wie eine spezifische Atmösphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent- schiedenen Eindruck auf den Geruchsinn vergleicht. Es ist, wie wenn man vom Weine sagt, er habe Blume, eine bestimmte Blume, womit man aus- drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachsen, die Zone, die ihn gereift, in den feinsten Nerven durchfühle. Es ist vielleicht das höchste, absolute Lob, wenn man von einem lyrischen Gedichte sagen kann, es habe Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, diesen Duft zu finden und zu unterscheiden.
§. 887.
Der lyrische Styl ist im Unterschiede vom epischen (vergl. §. 869) darauf gewiesen, mehr errathen zu lassen, als auszusprechen, vom Aeußeren auf das Innere zu deuten und daher nicht in gemessener Ruhe zu entwickeln, sondern
„allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegoſſen in’s früh- welkende Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.“
Das einzelne Werk der lyriſchen Muſe wird durch dieſe Unendlichkeit, den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Univerſalen lebenden Ge- müths zum Mikrokoſmus. Allein die Kunſt im Ganzen und Großen ſtrebt dahin, den Mikrokoſmus in einem entfalteten, größeren Ausſchnitte des Makrokoſmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der Welt an und läßt ihm keine Selbſtändigkeit, entwickelt ihn nicht, ſondern eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da- durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht ſo unbedingt, wie es Angeſichts des größeren Kunſtwerks keine Welt mehr gibt, ſondern die ganze Welt jetzt hier, in dieſem Bild enthalten iſt, wir fühlen vielmehr den Vor- behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge geben kann, die erſt das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er- zeugniſſe der lyriſchen Dichtung ſummiren, das Bild der ganzen einzelnen Perſönlichkeit und ihrer Weltauffaſſung entſpringt nur aus der Reihe ihrer Lieder; dieſe Reihe neigt an ſich zu Gruppen, die einen Lebenszuſtand erſt entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und ſchließen ſich zum Geſammtbilde ab. Solche Gruppen ſind aber im Großen die lyriſchen Poeſieen ganzer Völker, wie ſie ſich unterſcheidend ergänzen, und nur die lyriſchen Dichtungen aller kunſtſinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren verſchiedenſten Puncten von der Subjectivität nach ihren verſchiedenſten Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetiſch durchwühlt und ſo die Welt im Subject oder umgekehrt. — Wir können dieß Alles ſo zuſammenfaſſen: die lyriſche Poeſie hat nicht ſowohl beſtimmten Körper, als beſtimmten Duft. Man vernimmt in ihr die Perſönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweiſe ganzer Nationen, vereinigt mit der beſtimmten Natur der Gegenſtände, an die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrſchender Richtung anſchießt, wie eine ſpezifiſche Atmöſphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent- ſchiedenen Eindruck auf den Geruchſinn vergleicht. Es iſt, wie wenn man vom Weine ſagt, er habe Blume, eine beſtimmte Blume, womit man aus- drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachſen, die Zone, die ihn gereift, in den feinſten Nerven durchfühle. Es iſt vielleicht das höchſte, abſolute Lob, wenn man von einem lyriſchen Gedichte ſagen kann, es habe Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, dieſen Duft zu finden und zu unterſcheiden.
§. 887.
Der lyriſche Styl iſt im Unterſchiede vom epiſchen (vergl. §. 869) darauf gewieſen, mehr errathen zu laſſen, als auszuſprechen, vom Aeußeren auf das Innere zu deuten und daher nicht in gemeſſener Ruhe zu entwickeln, ſondern
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„allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegoſſen in’s früh-
welkende Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.“
Das einzelne Werk der lyriſchen Muſe wird durch dieſe Unendlichkeit,
den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Univerſalen lebenden Ge-
müths zum Mikrokoſmus. Allein die Kunſt im Ganzen und Großen ſtrebt
dahin, den Mikrokoſmus in einem entfalteten, größeren Ausſchnitte des
Makrokoſmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der
Welt an und läßt ihm keine Selbſtändigkeit, entwickelt ihn nicht, ſondern
eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da-
durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht ſo unbedingt, wie es Angeſichts
des größeren Kunſtwerks keine Welt mehr gibt, ſondern die ganze Welt
jetzt hier, in dieſem Bild enthalten iſt, wir fühlen vielmehr den Vor-
behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge
geben kann, die erſt das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er-
zeugniſſe der lyriſchen Dichtung ſummiren, das Bild der ganzen einzelnen
Perſönlichkeit und ihrer Weltauffaſſung entſpringt nur aus der Reihe ihrer
Lieder; dieſe Reihe neigt an ſich zu Gruppen, die einen Lebenszuſtand erſt
entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und ſchließen ſich zum
Geſammtbilde ab. Solche Gruppen ſind aber im Großen die lyriſchen
Poeſieen ganzer Völker, wie ſie ſich unterſcheidend ergänzen, und nur die
lyriſchen Dichtungen aller kunſtſinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren
verſchiedenſten Puncten von der Subjectivität nach ihren verſchiedenſten
Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetiſch durchwühlt und ſo die Welt im
Subject oder umgekehrt. — Wir können dieß Alles ſo zuſammenfaſſen: die
lyriſche Poeſie hat nicht ſowohl beſtimmten Körper, als beſtimmten Duft.
Man vernimmt in ihr die Perſönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweiſe
ganzer Nationen, vereinigt mit der beſtimmten Natur der Gegenſtände, an
die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrſchender Richtung anſchießt,
wie eine ſpezifiſche Atmöſphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent-
ſchiedenen Eindruck auf den Geruchſinn vergleicht. Es iſt, wie wenn man
vom Weine ſagt, er habe Blume, eine beſtimmte Blume, womit man aus-
drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachſen, die Zone, die
ihn gereift, in den feinſten Nerven durchfühle. Es iſt vielleicht das höchſte,
abſolute Lob, wenn man von einem lyriſchen Gedichte ſagen kann, es habe
Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, dieſen Duft zu finden
und zu unterſcheiden.
§. 887.
Der lyriſche Styl iſt im Unterſchiede vom epiſchen (vergl. §. 869) darauf
gewieſen, mehr errathen zu laſſen, als auszuſprechen, vom Aeußeren auf das
Innere zu deuten und daher nicht in gemeſſener Ruhe zu entwickeln, ſondern
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/197>, abgerufen am 07.07.2024.
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