Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
mehr oder weniger bestimmter Keim schon im Volksroman und im bürger- §. 882. Was die Stimmungsunterschiede der Phantasie betrifft, so zieht der Wir haben die Frage über das Verhältniß der epischen Poesie zum
mehr oder weniger beſtimmter Keim ſchon im Volksroman und im bürger- §. 882. Was die Stimmungsunterſchiede der Phantaſie betrifft, ſo zieht der Wir haben die Frage über das Verhältniß der epiſchen Poeſie zum <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0179" n="1315"/> mehr oder weniger beſtimmter Keim ſchon im Volksroman und im bürger-<lb/> lichen. Es liegt beiden, namentlich dem erſteren, nahe, die brennende<lb/> Frage über die Einrichtung der Geſellſchaft, Unterſchied und Kampf der<lb/> Stände, Verhältniß zwiſchen Arbeit und Erwerb, Vergehungen und Strafen<lb/> u. ſ. w. fühlbarer aus ihrem Erzählungsſtoff hervorſpringen zu laſſen, aus-<lb/> drücklich zu behandeln und näher oder ferner an die Grenze des Tenden-<lb/> ziöſen zu treiben; es kann aber einen Roman geben, der ſolche Fragen<lb/> entſchieden und doch nicht in unpoetiſcher Abſichtlichkeit, ſondern mit der<lb/> Friſche unmittelbarer Kraft und Erfindung zu ſeinem Mittelpuncte macht;<lb/> ſeine Sphäre iſt entweder bürgerlich oder volksthümlich, das Gewicht aber,<lb/> das auf dieſem Mittelpuncte liegt, begründet ſeinen Namen, weist ihm<lb/> ſeine eigene Stelle an. Immermann’s Epigonen ſind trotz ihren ſchwachen<lb/> und nachgeahmten Partieen ein achtungswerthes Beiſpiel. Es wird freilich<lb/> nur Wenigen und in wenigen Momenten gelingen, einen Inhalt, der ſeiner<lb/> Natur nach in ſehr bewußter Weiſe gedacht ſein will, ſo in ſich aufzunehmen,<lb/> daß er ganz als Geſtalt und Handlung vor dem Innern ſteht, und demnach<lb/> ſo zu behandeln, daß alſo nicht der unorganiſche Weg der Tendenz einge-<lb/> ſchlagen wird. Die geniale George Sand ſteht hoch in den endloſen Fluthen,<lb/> welche der tendenziös ſoziale Roman in der neueſten Zeit aufgeworfen hat,<lb/> nicht weil man ſagen kann, ſie habe jene Schwierigkeit gelöst, vielmehr ſie<lb/> iſt ganz tendenziös, aber dem außer-äſthetiſchen Zwecke ſteht ein Auge, eine<lb/> Kraft der Zeichnung, eine Seele, ein Stylgefühl Raphael’s zu Gebot,<lb/> welche Bewunderung und Liebe fordern.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 882.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Was die <hi rendition="#g">Stimmungsunterſchiede</hi> der Phantaſie betrifft, ſo zieht der<lb/> Roman in vollem Umfang das <hi rendition="#g">Komiſche</hi> in ſeinen Kreis und bildet es zu<lb/> einer beſondern Form aus. Die ironiſche Auflöſung des (romantiſchen) Epos<lb/> war für ſeine Entſtehung überhaupt und für die Begründung dieſer Form ein<lb/> weſentliches Moment, wogegen innerhalb des Epos das Komiſche nur ſpar-<lb/> ſamen Raum findet und nicht eine eigene Form, ſondern nur eine Parodie der<lb/> Dichtart hervorbringen kann. Der Roman bewegt ſich durch alle Stufen des<lb/> Komiſchen bis zum Humor, der ſich naturgemäß mit der <hi rendition="#g">ſentimentalen</hi><lb/> Richtung verbindet. Der Stoffſphäre nach vereinigt ſich das Komiſche mit der<lb/> volksthümlichen oder bürgerlichen Oppoſition gegen den ariſtokratiſchen Roman.<lb/> Der ernſte Roman liebt glücklichen Ausgang, kann aber auch tragiſch endigen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Wir haben die Frage über das Verhältniß der epiſchen Poeſie zum<lb/> Komiſchen bis hieher verſchoben, weil erſt beide gegenſätzliche Stylformen<lb/> vorliegen müſſen, um ſie zu beantworten. Das ächte Epos iſt durch die<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1315/0179]
mehr oder weniger beſtimmter Keim ſchon im Volksroman und im bürger-
lichen. Es liegt beiden, namentlich dem erſteren, nahe, die brennende
Frage über die Einrichtung der Geſellſchaft, Unterſchied und Kampf der
Stände, Verhältniß zwiſchen Arbeit und Erwerb, Vergehungen und Strafen
u. ſ. w. fühlbarer aus ihrem Erzählungsſtoff hervorſpringen zu laſſen, aus-
drücklich zu behandeln und näher oder ferner an die Grenze des Tenden-
ziöſen zu treiben; es kann aber einen Roman geben, der ſolche Fragen
entſchieden und doch nicht in unpoetiſcher Abſichtlichkeit, ſondern mit der
Friſche unmittelbarer Kraft und Erfindung zu ſeinem Mittelpuncte macht;
ſeine Sphäre iſt entweder bürgerlich oder volksthümlich, das Gewicht aber,
das auf dieſem Mittelpuncte liegt, begründet ſeinen Namen, weist ihm
ſeine eigene Stelle an. Immermann’s Epigonen ſind trotz ihren ſchwachen
und nachgeahmten Partieen ein achtungswerthes Beiſpiel. Es wird freilich
nur Wenigen und in wenigen Momenten gelingen, einen Inhalt, der ſeiner
Natur nach in ſehr bewußter Weiſe gedacht ſein will, ſo in ſich aufzunehmen,
daß er ganz als Geſtalt und Handlung vor dem Innern ſteht, und demnach
ſo zu behandeln, daß alſo nicht der unorganiſche Weg der Tendenz einge-
ſchlagen wird. Die geniale George Sand ſteht hoch in den endloſen Fluthen,
welche der tendenziös ſoziale Roman in der neueſten Zeit aufgeworfen hat,
nicht weil man ſagen kann, ſie habe jene Schwierigkeit gelöst, vielmehr ſie
iſt ganz tendenziös, aber dem außer-äſthetiſchen Zwecke ſteht ein Auge, eine
Kraft der Zeichnung, eine Seele, ein Stylgefühl Raphael’s zu Gebot,
welche Bewunderung und Liebe fordern.
§. 882.
Was die Stimmungsunterſchiede der Phantaſie betrifft, ſo zieht der
Roman in vollem Umfang das Komiſche in ſeinen Kreis und bildet es zu
einer beſondern Form aus. Die ironiſche Auflöſung des (romantiſchen) Epos
war für ſeine Entſtehung überhaupt und für die Begründung dieſer Form ein
weſentliches Moment, wogegen innerhalb des Epos das Komiſche nur ſpar-
ſamen Raum findet und nicht eine eigene Form, ſondern nur eine Parodie der
Dichtart hervorbringen kann. Der Roman bewegt ſich durch alle Stufen des
Komiſchen bis zum Humor, der ſich naturgemäß mit der ſentimentalen
Richtung verbindet. Der Stoffſphäre nach vereinigt ſich das Komiſche mit der
volksthümlichen oder bürgerlichen Oppoſition gegen den ariſtokratiſchen Roman.
Der ernſte Roman liebt glücklichen Ausgang, kann aber auch tragiſch endigen.
Wir haben die Frage über das Verhältniß der epiſchen Poeſie zum
Komiſchen bis hieher verſchoben, weil erſt beide gegenſätzliche Stylformen
vorliegen müſſen, um ſie zu beantworten. Das ächte Epos iſt durch die
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