gesehen, die Idee des Heranreifens zur reinen Menschlichkeit zum Inhalt, das eigentliche Handeln ist nicht ihre Sphäre. Damit ist aber natürlich nicht gesagt, daß nicht der Kern der menschlichen Vollendung der Persön- lichkeit in das Ethische, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in Beziehung auf das nationale, politische Leben zu legen sei, nur daß es bei der Beziehung bleibt und nicht die That selbst, höchstens eine Aussicht auf stetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe's Roman faßt aber im Sinne seiner Zeit das Humanitätsleben als ein System idealen Selbstgenusses, worin das eigentlich Active und das Interesse für die großen Gegenstände desselben fehlt; die Schlußwendung zu der Idee nützlicher Thätigkeit und der Begriff der Resignation vermag diese Grundlage nicht zu verändern, fällt vielmehr selbst wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es ist dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unserem Zusam- menhang als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es verhält sich ebenso mit dem Künstler-Romane, zu welchem der W. Meister neigt, und den wir zum aristokratischen zählen dürfen. Der allgemeine Grund, der gegen die Wahl solcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Be- schäftigung entscheidet, ist mehrfach und noch so eben von uns ausgesprochen; in dieser Rückbiegung der Kunst auf sich selbst verräth sich ganz die bedenk- liche Scheue der neueren Zeit vor dem herben Roh-Stoffe des realen Lebens. Wir wollen jedoch damit nicht schroff absprechen; Künstler, mehr noch Dichter, Schauspieler können erschütternde Schicksale erleben, die hinreichenden Stoff für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, so daß man das Mißliche einer Beschäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger fühlen mag; je ernster aber ein solcher Lebensgang erscheint, je ergreifender die Kämpfe einer künstlerisch idealen Natur mit der Welt, desto bestimmter tritt ein solcher Roman aus der aristokratischen, fein epicureischen Sphäre heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Innerhalb der Sphäre, in der wir stehen, ja der Behandlung nach in aller Roman- Literatur ist Göthe's Roman ein Werk fast unvergleichlicher Vollkommenheit. Die breiten und vollen Massen des Inhalts, getränkt mit Lebensweisheit, erklingen unter der Hand des Künstlers wie in höheren Rhythmen, das Stoffartige ist rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epischem Lächeln schwebt objectiv der ruhige Geist über der harmonisch geordneten weiten Welt. -- Es war zunächst die innere Unwahrheit des aristokratischen Ro- mans in seiner ursprünglichen Gestalt, was den Gegensatz herausforderte. Diese Unwahrheit lag in der kindischen Häufung des Unwahrscheinlichen, den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen aben- theuerlichen Zufällen, die derselbe aus der Ritter-Romantik mit herüber- brachte, ebenso aber in dem falschen Welt- und Sittenbild überhaupt, der Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung,
geſehen, die Idee des Heranreifens zur reinen Menſchlichkeit zum Inhalt, das eigentliche Handeln iſt nicht ihre Sphäre. Damit iſt aber natürlich nicht geſagt, daß nicht der Kern der menſchlichen Vollendung der Perſön- lichkeit in das Ethiſche, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in Beziehung auf das nationale, politiſche Leben zu legen ſei, nur daß es bei der Beziehung bleibt und nicht die That ſelbſt, höchſtens eine Ausſicht auf ſtetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe’s Roman faßt aber im Sinne ſeiner Zeit das Humanitätsleben als ein Syſtem idealen Selbſtgenuſſes, worin das eigentlich Active und das Intereſſe für die großen Gegenſtände deſſelben fehlt; die Schlußwendung zu der Idee nützlicher Thätigkeit und der Begriff der Reſignation vermag dieſe Grundlage nicht zu verändern, fällt vielmehr ſelbſt wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es iſt dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unſerem Zuſam- menhang als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es verhält ſich ebenſo mit dem Künſtler-Romane, zu welchem der W. Meiſter neigt, und den wir zum ariſtokratiſchen zählen dürfen. Der allgemeine Grund, der gegen die Wahl ſolcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Be- ſchäftigung entſcheidet, iſt mehrfach und noch ſo eben von uns ausgeſprochen; in dieſer Rückbiegung der Kunſt auf ſich ſelbſt verräth ſich ganz die bedenk- liche Scheue der neueren Zeit vor dem herben Roh-Stoffe des realen Lebens. Wir wollen jedoch damit nicht ſchroff abſprechen; Künſtler, mehr noch Dichter, Schauſpieler können erſchütternde Schickſale erleben, die hinreichenden Stoff für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, ſo daß man das Mißliche einer Beſchäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger fühlen mag; je ernſter aber ein ſolcher Lebensgang erſcheint, je ergreifender die Kämpfe einer künſtleriſch idealen Natur mit der Welt, deſto beſtimmter tritt ein ſolcher Roman aus der ariſtokratiſchen, fein epicureiſchen Sphäre heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Innerhalb der Sphäre, in der wir ſtehen, ja der Behandlung nach in aller Roman- Literatur iſt Göthe’s Roman ein Werk faſt unvergleichlicher Vollkommenheit. Die breiten und vollen Maſſen des Inhalts, getränkt mit Lebensweisheit, erklingen unter der Hand des Künſtlers wie in höheren Rhythmen, das Stoffartige iſt rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epiſchem Lächeln ſchwebt objectiv der ruhige Geiſt über der harmoniſch geordneten weiten Welt. — Es war zunächſt die innere Unwahrheit des ariſtokratiſchen Ro- mans in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, was den Gegenſatz herausforderte. Dieſe Unwahrheit lag in der kindiſchen Häufung des Unwahrſcheinlichen, den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen aben- theuerlichen Zufällen, die derſelbe aus der Ritter-Romantik mit herüber- brachte, ebenſo aber in dem falſchen Welt- und Sittenbild überhaupt, der Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung,
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[1312/0176]
geſehen, die Idee des Heranreifens zur reinen Menſchlichkeit zum Inhalt,
das eigentliche Handeln iſt nicht ihre Sphäre. Damit iſt aber natürlich
nicht geſagt, daß nicht der Kern der menſchlichen Vollendung der Perſön-
lichkeit in das Ethiſche, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in
Beziehung auf das nationale, politiſche Leben zu legen ſei, nur daß es bei
der Beziehung bleibt und nicht die That ſelbſt, höchſtens eine Ausſicht auf
ſtetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe’s Roman faßt aber im Sinne
ſeiner Zeit das Humanitätsleben als ein Syſtem idealen Selbſtgenuſſes,
worin das eigentlich Active und das Intereſſe für die großen Gegenſtände
deſſelben fehlt; die Schlußwendung zu der Idee nützlicher Thätigkeit und
der Begriff der Reſignation vermag dieſe Grundlage nicht zu verändern,
fällt vielmehr ſelbſt wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es
iſt dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unſerem Zuſam-
menhang als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es
verhält ſich ebenſo mit dem Künſtler-Romane, zu welchem der W. Meiſter
neigt, und den wir zum ariſtokratiſchen zählen dürfen. Der allgemeine
Grund, der gegen die Wahl ſolcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Be-
ſchäftigung entſcheidet, iſt mehrfach und noch ſo eben von uns ausgeſprochen;
in dieſer Rückbiegung der Kunſt auf ſich ſelbſt verräth ſich ganz die bedenk-
liche Scheue der neueren Zeit vor dem herben Roh-Stoffe des realen Lebens.
Wir wollen jedoch damit nicht ſchroff abſprechen; Künſtler, mehr noch Dichter,
Schauſpieler können erſchütternde Schickſale erleben, die hinreichenden Stoff
für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, ſo daß man das Mißliche
einer Beſchäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger
fühlen mag; je ernſter aber ein ſolcher Lebensgang erſcheint, je ergreifender
die Kämpfe einer künſtleriſch idealen Natur mit der Welt, deſto beſtimmter
tritt ein ſolcher Roman aus der ariſtokratiſchen, fein epicureiſchen Sphäre
heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Innerhalb
der Sphäre, in der wir ſtehen, ja der Behandlung nach in aller Roman-
Literatur iſt Göthe’s Roman ein Werk faſt unvergleichlicher Vollkommenheit.
Die breiten und vollen Maſſen des Inhalts, getränkt mit Lebensweisheit,
erklingen unter der Hand des Künſtlers wie in höheren Rhythmen, das
Stoffartige iſt rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epiſchem Lächeln
ſchwebt objectiv der ruhige Geiſt über der harmoniſch geordneten weiten
Welt. — Es war zunächſt die innere Unwahrheit des ariſtokratiſchen Ro-
mans in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, was den Gegenſatz herausforderte.
Dieſe Unwahrheit lag in der kindiſchen Häufung des Unwahrſcheinlichen,
den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen aben-
theuerlichen Zufällen, die derſelbe aus der Ritter-Romantik mit herüber-
brachte, ebenſo aber in dem falſchen Welt- und Sittenbild überhaupt, der
Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/176>, abgerufen am 23.11.2024.
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