soll der Roman ein desto reicheres Gemälde entwerfen, denn dem Geiste der Erfahrung steht Alles im Zusammenhang, sein Weltbild ist ein gefülltes, kennt keine Lücken. Er ist naturgemäß polymythisch und wie Aristoteles von der zweiten, "ethischen" Gattung des Epos sagt, in der Composition verwickelt. Wir haben in dieser das entfernte Vorbild des Romans erkannt (§. 874), sie als sittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Ro- mane gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich nur in ironischem Sinne so, da er nicht eigentlich handelt, sondern wesentlich der mehr unselbständige, nur verarbeitende Mittelpunct ist, in welchem die Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Cultursumme einer Zeit, die Maximen der Gesellschaft, die Wirkungen der Verhältnisse zusam- menlaufen. Er macht durch diesen Lebens-Complex seinen Bildungsgang, er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeu- tung der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Haupt- moment in der Ergänzung und Reifung der Persönlichkeit. Das Ziel des Romanhelden ist schließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem, was Schiller vom Wilh. Meister sagt: er trete von einem leeren und un- bestimmten Ideal in ein bestimmtes, thätiges Leben, aber ohne die ideali- sirende Kraft dabei einzubüßen; er wird vom Leben realistisch erzogen, er soll reif werden, zu wirken (-- im Unterschiede vom Handeln --), aber zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Mensch, als eine Persön- lichkeit. In dieser Erziehung ist denn die Liebe, da wir das rein Mensch- liche, Ideale im Weibe symbolisch anschauen, ein wesentliches Moment und zugleich Surrogat für die verlorene Poesie der heroisch-epischen Weltan- schauung; die tiefsten Metamorphosen der Persönlichkeit, so haben wir schon zu §. 877, 1. gesagt, knüpfen sich an eine Leidenschaft, die auf sinnlicher Grundlage den ganzen Menschen ergreift, alle seine geistigen Kräfte in Bewegung setzt, an ihre Wechsel, Freuden, Leiden; sie wird so zu dem Bande, an welchem der innere Bildungsgang des Menschen, obgleich er seinem höheren Inhalte nach weit darüber hinausliegt, seinen Verlauf nimmt. Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetischen inmitten der Prosa, den wir im vorh. §. zuletzt aufgeführt haben: die Geheimnisse des Seelenlebens sind die Stelle, wohin das Ideale sich geflüchtet hat, nachdem das Reale prosaisch geworden ist. Die Kämpfe des Geistes, des Gewissens, die tiefen Krisen der Ueberzeugung, der Weltanschauung, die das bedeutende Individuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des Gefühlslebens: dieß find die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans. Doch natürlich sind dieß nicht blos innere Conflicte, sie erwachsen aus der Erfahrung und der Grundconflict ist immer der des erfahrungslosen Herzens, das mit seinen Idealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die uner- bittliche Natur der Wirklichkeit als einer Gesammtsumme von Bedingungen,
ſoll der Roman ein deſto reicheres Gemälde entwerfen, denn dem Geiſte der Erfahrung ſteht Alles im Zuſammenhang, ſein Weltbild iſt ein gefülltes, kennt keine Lücken. Er iſt naturgemäß polymythiſch und wie Ariſtoteles von der zweiten, „ethiſchen“ Gattung des Epos ſagt, in der Compoſition verwickelt. Wir haben in dieſer das entfernte Vorbild des Romans erkannt (§. 874), ſie als ſittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Ro- mane gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich nur in ironiſchem Sinne ſo, da er nicht eigentlich handelt, ſondern weſentlich der mehr unſelbſtändige, nur verarbeitende Mittelpunct iſt, in welchem die Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Culturſumme einer Zeit, die Maximen der Geſellſchaft, die Wirkungen der Verhältniſſe zuſam- menlaufen. Er macht durch dieſen Lebens-Complex ſeinen Bildungsgang, er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeu- tung der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Haupt- moment in der Ergänzung und Reifung der Perſönlichkeit. Das Ziel des Romanhelden iſt ſchließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem, was Schiller vom Wilh. Meiſter ſagt: er trete von einem leeren und un- beſtimmten Ideal in ein beſtimmtes, thätiges Leben, aber ohne die ideali- ſirende Kraft dabei einzubüßen; er wird vom Leben realiſtiſch erzogen, er ſoll reif werden, zu wirken (— im Unterſchiede vom Handeln —), aber zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Menſch, als eine Perſön- lichkeit. In dieſer Erziehung iſt denn die Liebe, da wir das rein Menſch- liche, Ideale im Weibe ſymboliſch anſchauen, ein weſentliches Moment und zugleich Surrogat für die verlorene Poeſie der heroiſch-epiſchen Weltan- ſchauung; die tiefſten Metamorphoſen der Perſönlichkeit, ſo haben wir ſchon zu §. 877, 1. geſagt, knüpfen ſich an eine Leidenſchaft, die auf ſinnlicher Grundlage den ganzen Menſchen ergreift, alle ſeine geiſtigen Kräfte in Bewegung ſetzt, an ihre Wechſel, Freuden, Leiden; ſie wird ſo zu dem Bande, an welchem der innere Bildungsgang des Menſchen, obgleich er ſeinem höheren Inhalte nach weit darüber hinausliegt, ſeinen Verlauf nimmt. Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetiſchen inmitten der Proſa, den wir im vorh. §. zuletzt aufgeführt haben: die Geheimniſſe des Seelenlebens ſind die Stelle, wohin das Ideale ſich geflüchtet hat, nachdem das Reale proſaiſch geworden iſt. Die Kämpfe des Geiſtes, des Gewiſſens, die tiefen Kriſen der Ueberzeugung, der Weltanſchauung, die das bedeutende Individuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des Gefühlslebens: dieß find die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans. Doch natürlich ſind dieß nicht blos innere Conflicte, ſie erwachſen aus der Erfahrung und der Grundconflict iſt immer der des erfahrungsloſen Herzens, das mit ſeinen Idealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die uner- bittliche Natur der Wirklichkeit als einer Geſammtſumme von Bedingungen,
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[1308/0172]
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der Erfahrung ſteht Alles im Zuſammenhang, ſein Weltbild iſt ein gefülltes,
kennt keine Lücken. Er iſt naturgemäß polymythiſch und wie Ariſtoteles
von der zweiten, „ethiſchen“ Gattung des Epos ſagt, in der Compoſition
verwickelt. Wir haben in dieſer das entfernte Vorbild des Romans erkannt
(§. 874), ſie als ſittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Ro-
mane gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich
nur in ironiſchem Sinne ſo, da er nicht eigentlich handelt, ſondern weſentlich
der mehr unſelbſtändige, nur verarbeitende Mittelpunct iſt, in welchem die
Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Culturſumme einer
Zeit, die Maximen der Geſellſchaft, die Wirkungen der Verhältniſſe zuſam-
menlaufen. Er macht durch dieſen Lebens-Complex ſeinen Bildungsgang,
er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeu-
tung der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Haupt-
moment in der Ergänzung und Reifung der Perſönlichkeit. Das Ziel des
Romanhelden iſt ſchließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem,
was Schiller vom Wilh. Meiſter ſagt: er trete von einem leeren und un-
beſtimmten Ideal in ein beſtimmtes, thätiges Leben, aber ohne die ideali-
ſirende Kraft dabei einzubüßen; er wird vom Leben realiſtiſch erzogen, er
ſoll reif werden, zu wirken (— im Unterſchiede vom Handeln —), aber
zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Menſch, als eine Perſön-
lichkeit. In dieſer Erziehung iſt denn die Liebe, da wir das rein Menſch-
liche, Ideale im Weibe ſymboliſch anſchauen, ein weſentliches Moment und
zugleich Surrogat für die verlorene Poeſie der heroiſch-epiſchen Weltan-
ſchauung; die tiefſten Metamorphoſen der Perſönlichkeit, ſo haben wir ſchon
zu §. 877, 1. geſagt, knüpfen ſich an eine Leidenſchaft, die auf ſinnlicher
Grundlage den ganzen Menſchen ergreift, alle ſeine geiſtigen Kräfte in
Bewegung ſetzt, an ihre Wechſel, Freuden, Leiden; ſie wird ſo zu dem Bande,
an welchem der innere Bildungsgang des Menſchen, obgleich er ſeinem
höheren Inhalte nach weit darüber hinausliegt, ſeinen Verlauf nimmt.
Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetiſchen inmitten
der Proſa, den wir im vorh. §. zuletzt aufgeführt haben: die Geheimniſſe
des Seelenlebens ſind die Stelle, wohin das Ideale ſich geflüchtet hat,
nachdem das Reale proſaiſch geworden iſt. Die Kämpfe des Geiſtes, des
Gewiſſens, die tiefen Kriſen der Ueberzeugung, der Weltanſchauung, die
das bedeutende Individuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des
Gefühlslebens: dieß find die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans.
Doch natürlich ſind dieß nicht blos innere Conflicte, ſie erwachſen aus der
Erfahrung und der Grundconflict iſt immer der des erfahrungsloſen Herzens,
das mit ſeinen Idealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die uner-
bittliche Natur der Wirklichkeit als einer Geſammtſumme von Bedingungen,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/172>, abgerufen am 23.11.2024.
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