welche Handlung, Fülle, Bild darboten, besser benützt und ausgebildet, so wäre nur ein sich widersprechendes Ganzes entstanden. Milton's und Klop- stock's Epen sind und bleiben im historischen Zusammenhange der Literatur höchst merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche Empfindungsleben in erhabener Gestalt auszusprechen, und der neue Sinn der Objectivität, der Zeichnung (dieser freilich bei Milton kräftiger, als bei Klopstock), der in der beschreibenden Poesie vorher auf falschem Wege be- griffen war, in der Nachbildung Homer's sich Luft machte, aber wir halten uns bei dieser Seite nicht auf, denn wir schreiben hier keine Geschichte der Poesie. Ebendaher befassen wir uns auch nicht mit den neueren Versuchen, Helden- gedichte auf geschichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopstock's und Schiller's Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. s. w., nicht mit den neuesten kürzeren Dichtungen, die abermals diese Form wiederzubeleben versuchten. Günstiger steht es mit Wieland's Oberon; er will kein Epos sein, sondern ein entwickeltes Mährchen im Geist Ariosto's, und schließt doch einen schönen sittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch für solchen größern Zusammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat, konnte er der Nation kein bleibendes Interesse abgewinnen.
2. Der §. weist dem Romane seine eigentliche Zeit ganz in der mo- dernen Literatur an; dabei ist natürlich nur allgemein der Eintritt dieser Kunstform in ihre wahre Geltung in's Auge gefaßt; wenn wir historisch verführen, müßten wir das Verhältniß derselben zu den Rittergedichten nachweisen: den positiven Ursprung aus denselben in der prosaischen Auf- lösung ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironischen Auf- lösung ihres Inhalts durch Cervantes. Dieß ist nicht unsere Aufgabe, wir berühren aber jenen Ursprung nachher im innern Zusammenhang, besprechen die letztere Erscheinung da, wo der Unterschied des Ernsten und Komischen einzuführen ist, und beschränken uns hier auf das Allgemeine und Prin- zipielle. Durch die Darstellung der Weltalter der Phantasie ist aber bereits Alles so vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweisung bedarf. Die Grund- lage des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt. Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieser Anschauung hat die Menschheit auch die prosaische Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Lösung der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amts- normen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang physischer Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit sittlichen Tugenden, die im Heroen lebte, sich scheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen Zug zur Mechanisirung der technischen Producte, des Schmucks u. s. w., die Raf-
welche Handlung, Fülle, Bild darboten, beſſer benützt und ausgebildet, ſo wäre nur ein ſich widerſprechendes Ganzes entſtanden. Milton’s und Klop- ſtock’s Epen ſind und bleiben im hiſtoriſchen Zuſammenhange der Literatur höchſt merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche Empfindungsleben in erhabener Geſtalt auszuſprechen, und der neue Sinn der Objectivität, der Zeichnung (dieſer freilich bei Milton kräftiger, als bei Klopſtock), der in der beſchreibenden Poeſie vorher auf falſchem Wege be- griffen war, in der Nachbildung Homer’s ſich Luft machte, aber wir halten uns bei dieſer Seite nicht auf, denn wir ſchreiben hier keine Geſchichte der Poeſie. Ebendaher befaſſen wir uns auch nicht mit den neueren Verſuchen, Helden- gedichte auf geſchichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopſtock’s und Schiller’s Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. ſ. w., nicht mit den neueſten kürzeren Dichtungen, die abermals dieſe Form wiederzubeleben verſuchten. Günſtiger ſteht es mit Wieland’s Oberon; er will kein Epos ſein, ſondern ein entwickeltes Mährchen im Geiſt Arioſto’s, und ſchließt doch einen ſchönen ſittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch für ſolchen größern Zuſammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat, konnte er der Nation kein bleibendes Intereſſe abgewinnen.
2. Der §. weist dem Romane ſeine eigentliche Zeit ganz in der mo- dernen Literatur an; dabei iſt natürlich nur allgemein der Eintritt dieſer Kunſtform in ihre wahre Geltung in’s Auge gefaßt; wenn wir hiſtoriſch verführen, müßten wir das Verhältniß derſelben zu den Rittergedichten nachweiſen: den poſitiven Urſprung aus denſelben in der proſaiſchen Auf- löſung ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironiſchen Auf- löſung ihres Inhalts durch Cervantes. Dieß iſt nicht unſere Aufgabe, wir berühren aber jenen Urſprung nachher im innern Zuſammenhang, beſprechen die letztere Erſcheinung da, wo der Unterſchied des Ernſten und Komiſchen einzuführen iſt, und beſchränken uns hier auf das Allgemeine und Prin- zipielle. Durch die Darſtellung der Weltalter der Phantaſie iſt aber bereits Alles ſo vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweiſung bedarf. Die Grund- lage des modernen Epos, des Romans, iſt die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, alſo die ſchlechthin nicht mehr mythiſche, die wunderloſe Welt. Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieſer Anſchauung hat die Menſchheit auch die proſaiſche Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Löſung der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amts- normen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang phyſiſcher Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit ſittlichen Tugenden, die im Heroen lebte, ſich ſcheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen Zug zur Mechaniſirung der techniſchen Producte, des Schmucks u. ſ. w., die Raf-
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[1304/0168]
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wäre nur ein ſich widerſprechendes Ganzes entſtanden. Milton’s und Klop-
ſtock’s Epen ſind und bleiben im hiſtoriſchen Zuſammenhange der Literatur
höchſt merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche
Empfindungsleben in erhabener Geſtalt auszuſprechen, und der neue Sinn
der Objectivität, der Zeichnung (dieſer freilich bei Milton kräftiger, als bei
Klopſtock), der in der beſchreibenden Poeſie vorher auf falſchem Wege be-
griffen war, in der Nachbildung Homer’s ſich Luft machte, aber wir halten
uns bei dieſer Seite nicht auf, denn wir ſchreiben hier keine Geſchichte der Poeſie.
Ebendaher befaſſen wir uns auch nicht mit den neueren Verſuchen, Helden-
gedichte auf geſchichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopſtock’s und
Schiller’s Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung
kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. ſ. w., nicht mit den neueſten
kürzeren Dichtungen, die abermals dieſe Form wiederzubeleben verſuchten.
Günſtiger ſteht es mit Wieland’s Oberon; er will kein Epos ſein, ſondern
ein entwickeltes Mährchen im Geiſt Arioſto’s, und ſchließt doch einen ſchönen
ſittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch
für ſolchen größern Zuſammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat,
konnte er der Nation kein bleibendes Intereſſe abgewinnen.
2. Der §. weist dem Romane ſeine eigentliche Zeit ganz in der mo-
dernen Literatur an; dabei iſt natürlich nur allgemein der Eintritt dieſer
Kunſtform in ihre wahre Geltung in’s Auge gefaßt; wenn wir hiſtoriſch
verführen, müßten wir das Verhältniß derſelben zu den Rittergedichten
nachweiſen: den poſitiven Urſprung aus denſelben in der proſaiſchen Auf-
löſung ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironiſchen Auf-
löſung ihres Inhalts durch Cervantes. Dieß iſt nicht unſere Aufgabe, wir
berühren aber jenen Urſprung nachher im innern Zuſammenhang, beſprechen
die letztere Erſcheinung da, wo der Unterſchied des Ernſten und Komiſchen
einzuführen iſt, und beſchränken uns hier auf das Allgemeine und Prin-
zipielle. Durch die Darſtellung der Weltalter der Phantaſie iſt aber bereits
Alles ſo vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweiſung bedarf. Die Grund-
lage des modernen Epos, des Romans, iſt die erfahrungsmäßig erkannte
Wirklichkeit, alſo die ſchlechthin nicht mehr mythiſche, die wunderloſe Welt.
Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieſer Anſchauung hat die Menſchheit auch
die proſaiſche Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Löſung
der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amts-
normen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit
zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang phyſiſcher
Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit ſittlichen Tugenden, die im
Heroen lebte, ſich ſcheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen
Zug zur Mechaniſirung der techniſchen Producte, des Schmucks u. ſ. w., die Raf-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/168>, abgerufen am 16.02.2025.
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