Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
Standpuncte seines Weltalters, und dieser Standpunct ist kein gesunder, 2. Wir können über Ariosto und Tasso kürzer weggehen. Hier
Standpuncte ſeines Weltalters, und dieſer Standpunct iſt kein geſunder, 2. Wir können über Arioſto und Taſſo kürzer weggehen. Hier <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0165" n="1301"/> Standpuncte ſeines Weltalters, und dieſer Standpunct iſt kein geſunder,<lb/> allgemein wahrer. Der urkräftige Geiſt konnte von ſolcher blos ſpezifiſchen<lb/> Anſchauung nicht unterdrückt werden und dieſe Urkraft, wo ſie durchbricht,<lb/> erſcheint allerdings als eine ächt epiſche. Dieß iſt in den real-geſchichtlichen<lb/> Beſtandtheilen, in dem Bilde der wirklichen Welt, wie ſie als die gerichtete<lb/> in das Jenſeits verſetzt iſt. Die Kämpfe der Parteien Italiens, die Thaten<lb/> und Leiden der Männer ſtehen hier in Charakterfiguren ächt hiſtoriſchen,<lb/> markigen Styls vor uns, wirklich ſtylvoll im beſten Sinne des Worts.<lb/> Und der Zuſtand des Gerichtetſeins bringt allerdings, wie es Hegel treffend<lb/> auffaßt (Aeſth. Th. 3, S. 409), noch einen beſondern plaſtiſchen Zug hinzu,<lb/> ein Feſtgehalten- und Hingebanntſein durch das Geſetz der Ewigkeit, einen<lb/> ehernen Charakter des Monumentalen. Dieß iſt der wahre, bleibende In-<lb/> halt, der Kern des Ganzen, nach Dante’s Meinung nicht das Eigentliche,<lb/> denn er ſtrebt dem myſtiſchen Ziele zu, aber eben da iſt er ganz epiſcher<lb/> Dichter, wo er ſich deſſen nicht bewußt iſt. Es verhält ſich wie mit den<lb/> hiſtoriſchen Charakterfiguren in der florentiniſchen Malerei des fünfzehnten<lb/> Jahrhunderts, die um irgend ein Mirakel gruppirt ſind, das den bezweckten<lb/> Inhalt bildet, und doch mehr Werth haben, als dieſer, doch den Keim der<lb/> geſchichtlichen Malerei darſtellen, die ihr Bett noch nicht finden kann (vergl.<lb/> §. 722). Im Uebrigen ſteht die Dichtung trotz dem claſſiſchen Muſter<lb/> auch in der Compoſition noch ganz unter dem ſcholaſtiſchen Formgefühle<lb/> des Mittelalters: ſie iſt mit dem Cirkel gothiſch architektoniſch, bis in das<lb/> Kleinſte hinein arithmetiſch, ſtatt poetiſch componirt und die herrſchende<lb/> Dreigliederung ſchließlich auch myſtiſch ſymboliſch gemeint, ſie lagert in<lb/> breiten ſcholaſtiſchen, mönchiſch ariſtoteliſchen Unterſuchungen, Unterſchei-<lb/> dungen ermüdende Maſſen doctrinellen Inhalts an, und da ihr die chriſt-<lb/> liche Mythologie nicht genügen kann, hilft ſie ſich mit der Allegorie, für<lb/> welche ſie zum Theil auch den Apparat des claſſiſchen Mythus ausbeutet. Ueber<lb/> dieſe vergl. §. 444; Dante’s Allegorien bekommen ein gewiſſes Leben durch<lb/> einen traumhaft myſtiſchen Hauch, der ſie umweht, aber ſie leiden nichts-<lb/> deſtoweniger an allen Schattenſeiten dieſer Zwittergeburt, die ebenſo dem<lb/> barbariſchen, unreifen, als dem überreifen, verſchnörkelten Geſchmack ange-<lb/> hört und dem Epos fremder iſt, als jeder andern Kunſtform, weil in ihm<lb/> recht beſonders Alles einfach das ſein ſoll, was es iſt. Die vielen Com-<lb/> mentare ſind eben ein Beweis der tiefen Unzulänglichkeit, denn die Poeſie<lb/> ſoll ſich ſelbſt erklären.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Wir können über <hi rendition="#g">Arioſto</hi> und <hi rendition="#g">Taſſo</hi> kürzer weggehen. Hier<lb/> iſt völlig freie, entbundene Kunſtpoeſie, wie ſie den Schluß des Mittel-<lb/> alters, den Anfang der modernen Zeit bezeichnet, und zwar nachahmende,<lb/> vornehme, gelehrte Kunſtpoeſie angewandt auf Stoffe der romantiſchen<lb/> Sage und Geſchichte, die einem phantaſtiſchen, unkritiſchen, naiven Be-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1301/0165]
Standpuncte ſeines Weltalters, und dieſer Standpunct iſt kein geſunder,
allgemein wahrer. Der urkräftige Geiſt konnte von ſolcher blos ſpezifiſchen
Anſchauung nicht unterdrückt werden und dieſe Urkraft, wo ſie durchbricht,
erſcheint allerdings als eine ächt epiſche. Dieß iſt in den real-geſchichtlichen
Beſtandtheilen, in dem Bilde der wirklichen Welt, wie ſie als die gerichtete
in das Jenſeits verſetzt iſt. Die Kämpfe der Parteien Italiens, die Thaten
und Leiden der Männer ſtehen hier in Charakterfiguren ächt hiſtoriſchen,
markigen Styls vor uns, wirklich ſtylvoll im beſten Sinne des Worts.
Und der Zuſtand des Gerichtetſeins bringt allerdings, wie es Hegel treffend
auffaßt (Aeſth. Th. 3, S. 409), noch einen beſondern plaſtiſchen Zug hinzu,
ein Feſtgehalten- und Hingebanntſein durch das Geſetz der Ewigkeit, einen
ehernen Charakter des Monumentalen. Dieß iſt der wahre, bleibende In-
halt, der Kern des Ganzen, nach Dante’s Meinung nicht das Eigentliche,
denn er ſtrebt dem myſtiſchen Ziele zu, aber eben da iſt er ganz epiſcher
Dichter, wo er ſich deſſen nicht bewußt iſt. Es verhält ſich wie mit den
hiſtoriſchen Charakterfiguren in der florentiniſchen Malerei des fünfzehnten
Jahrhunderts, die um irgend ein Mirakel gruppirt ſind, das den bezweckten
Inhalt bildet, und doch mehr Werth haben, als dieſer, doch den Keim der
geſchichtlichen Malerei darſtellen, die ihr Bett noch nicht finden kann (vergl.
§. 722). Im Uebrigen ſteht die Dichtung trotz dem claſſiſchen Muſter
auch in der Compoſition noch ganz unter dem ſcholaſtiſchen Formgefühle
des Mittelalters: ſie iſt mit dem Cirkel gothiſch architektoniſch, bis in das
Kleinſte hinein arithmetiſch, ſtatt poetiſch componirt und die herrſchende
Dreigliederung ſchließlich auch myſtiſch ſymboliſch gemeint, ſie lagert in
breiten ſcholaſtiſchen, mönchiſch ariſtoteliſchen Unterſuchungen, Unterſchei-
dungen ermüdende Maſſen doctrinellen Inhalts an, und da ihr die chriſt-
liche Mythologie nicht genügen kann, hilft ſie ſich mit der Allegorie, für
welche ſie zum Theil auch den Apparat des claſſiſchen Mythus ausbeutet. Ueber
dieſe vergl. §. 444; Dante’s Allegorien bekommen ein gewiſſes Leben durch
einen traumhaft myſtiſchen Hauch, der ſie umweht, aber ſie leiden nichts-
deſtoweniger an allen Schattenſeiten dieſer Zwittergeburt, die ebenſo dem
barbariſchen, unreifen, als dem überreifen, verſchnörkelten Geſchmack ange-
hört und dem Epos fremder iſt, als jeder andern Kunſtform, weil in ihm
recht beſonders Alles einfach das ſein ſoll, was es iſt. Die vielen Com-
mentare ſind eben ein Beweis der tiefen Unzulänglichkeit, denn die Poeſie
ſoll ſich ſelbſt erklären.
2. Wir können über Arioſto und Taſſo kürzer weggehen. Hier
iſt völlig freie, entbundene Kunſtpoeſie, wie ſie den Schluß des Mittel-
alters, den Anfang der modernen Zeit bezeichnet, und zwar nachahmende,
vornehme, gelehrte Kunſtpoeſie angewandt auf Stoffe der romantiſchen
Sage und Geſchichte, die einem phantaſtiſchen, unkritiſchen, naiven Be-
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