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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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und gar unepisch und nur im lyrischen Gebiete wahrer Dichter. -- Das
Stylgesetz muß sich nun auch in der Art der Fortbewegung äußern.
Die heutige Neigung, im Roman auf Ueberraschungen und starke Stöße zu
arbeiten, in rapidem Scenenwechsel Neues auf Neues zu pfropfen, die Haupt-
fabel in unaufhörlichem Abbrechen bis zur äußersten Spannung der Unge-
duld hinzuhalten, zeigt durch das Gegentheil des Richtigen recht das Richtige.
Die starken stoßweisen Wirkungen sind, wie sich zeigen wird, dramatisch
und ein solches Haschen nach denselben (das jedoch überhaupt unkünstlerisch
ist und auch im Drama jedes Maaß überschritte) zeugt zugleich von unserer
Uebersättigung, die nicht ruht, bis sie jede Gattung aus den Fugen bringt
und in die andere hinübersteigert. Schon die Fülle des anhängenden
Sinnlichen bringt einen Tenor der epischen Darstellung mit sich: daß man
zwischen dem Größten und Furchtbarsten ißt, trinkt, schläft, sich kleidet,
schon das vermittelt die Gegensätze, füllt die schroffen Sprünge aus. Doch
ist gewaltsam Einbrechendes, ergreifend Plötzliches dadurch natürlich nicht
untersagt. Der höhere Grund der mildernden Ueberleitung liegt in der
Ruhe des Dichters und in jener Anschauung, für welche Alles ebensowohl
begründet und begründend, als eine reine und selbständige Erscheinung des
allseitig begründeten Weltganzen ist. Daher wird er auch das Erschütternde
reichlich vorbereiten und in die Breite verhallen lassen, ohne darum die
Gewalt seines Ausbruchs zu schwächen, denn wir erschrecken z. B. über sehr
furchtbarem Geräusch auch wenn wir es erwartet haben. Daher werden
seine Gemälde "gegliederten Ketten gleichen, in welchen Bewegung aus
Bewegung, Figur aus Figur entspringt, das Ganze wird in seinen einzelnen
Gruppen durch nirgends unterbrochene Umrisse eine einzige Figur bilden, --
die Empfindungen folgen durch leise Uebergänge aufeinander, abstechende
Töne werden durch Zwischentöne gemildert, erschütternde allmälig vorbereitet
und ruhig verhallen gelassen, -- die Handlung geht ununterbrochen fort,
jeder Umstand fließt als nothwendige Folge aus dem Vorigen her und
herrscht so das Gesetz durchgängiger Stetigkeit" (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 57. 58. 161. 164. 218. 219). Was das Spannen betrifft, so darf
man diese Wirkung allerdings vom Epos nicht ganz ausweisen; Hektor's
Schicksal z. B. zu erfahren mußte jeder Hörer begierig sein und diese Be-
gierde wurde nicht aufgehoben dadurch, daß er es wie das Ende des ganzen
Kriegs durch die Sage zum Voraus wußte, denn der Dichter gab dem
Ganzen und jedem Theile den frischen Glanz der Neuheit, wohl aber war
dadurch die pathologische Gewalt der Neugierde gebrochen und so die ideale
Interesselosigkeit im Interesse gesichert. Wir werden diesen Punct bei dem
Roman wieder aufnehmen und sagen hier nur so viel, daß, wer ein Werk
dieser Gattung künstlerisch genießen will, immerhin das Ende vorweg lesen
mag, um den scharfen Pechfaden der Neugierde, mit dem der Roman-

und gar unepiſch und nur im lyriſchen Gebiete wahrer Dichter. — Das
Stylgeſetz muß ſich nun auch in der Art der Fortbewegung äußern.
Die heutige Neigung, im Roman auf Ueberraſchungen und ſtarke Stöße zu
arbeiten, in rapidem Scenenwechſel Neues auf Neues zu pfropfen, die Haupt-
fabel in unaufhörlichem Abbrechen bis zur äußerſten Spannung der Unge-
duld hinzuhalten, zeigt durch das Gegentheil des Richtigen recht das Richtige.
Die ſtarken ſtoßweiſen Wirkungen ſind, wie ſich zeigen wird, dramatiſch
und ein ſolches Haſchen nach denſelben (das jedoch überhaupt unkünſtleriſch
iſt und auch im Drama jedes Maaß überſchritte) zeugt zugleich von unſerer
Ueberſättigung, die nicht ruht, bis ſie jede Gattung aus den Fugen bringt
und in die andere hinüberſteigert. Schon die Fülle des anhängenden
Sinnlichen bringt einen Tenor der epiſchen Darſtellung mit ſich: daß man
zwiſchen dem Größten und Furchtbarſten ißt, trinkt, ſchläft, ſich kleidet,
ſchon das vermittelt die Gegenſätze, füllt die ſchroffen Sprünge aus. Doch
iſt gewaltſam Einbrechendes, ergreifend Plötzliches dadurch natürlich nicht
unterſagt. Der höhere Grund der mildernden Ueberleitung liegt in der
Ruhe des Dichters und in jener Anſchauung, für welche Alles ebenſowohl
begründet und begründend, als eine reine und ſelbſtändige Erſcheinung des
allſeitig begründeten Weltganzen iſt. Daher wird er auch das Erſchütternde
reichlich vorbereiten und in die Breite verhallen laſſen, ohne darum die
Gewalt ſeines Ausbruchs zu ſchwächen, denn wir erſchrecken z. B. über ſehr
furchtbarem Geräuſch auch wenn wir es erwartet haben. Daher werden
ſeine Gemälde „gegliederten Ketten gleichen, in welchen Bewegung aus
Bewegung, Figur aus Figur entſpringt, das Ganze wird in ſeinen einzelnen
Gruppen durch nirgends unterbrochene Umriſſe eine einzige Figur bilden, —
die Empfindungen folgen durch leiſe Uebergänge aufeinander, abſtechende
Töne werden durch Zwiſchentöne gemildert, erſchütternde allmälig vorbereitet
und ruhig verhallen gelaſſen, — die Handlung geht ununterbrochen fort,
jeder Umſtand fließt als nothwendige Folge aus dem Vorigen her und
herrſcht ſo das Geſetz durchgängiger Stetigkeit“ (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 57. 58. 161. 164. 218. 219). Was das Spannen betrifft, ſo darf
man dieſe Wirkung allerdings vom Epos nicht ganz ausweiſen; Hektor’s
Schickſal z. B. zu erfahren mußte jeder Hörer begierig ſein und dieſe Be-
gierde wurde nicht aufgehoben dadurch, daß er es wie das Ende des ganzen
Kriegs durch die Sage zum Voraus wußte, denn der Dichter gab dem
Ganzen und jedem Theile den friſchen Glanz der Neuheit, wohl aber war
dadurch die pathologiſche Gewalt der Neugierde gebrochen und ſo die ideale
Intereſſeloſigkeit im Intereſſe geſichert. Wir werden dieſen Punct bei dem
Roman wieder aufnehmen und ſagen hier nur ſo viel, daß, wer ein Werk
dieſer Gattung künſtleriſch genießen will, immerhin das Ende vorweg leſen
mag, um den ſcharfen Pechfaden der Neugierde, mit dem der Roman-

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[1277/0141] und gar unepiſch und nur im lyriſchen Gebiete wahrer Dichter. — Das Stylgeſetz muß ſich nun auch in der Art der Fortbewegung äußern. Die heutige Neigung, im Roman auf Ueberraſchungen und ſtarke Stöße zu arbeiten, in rapidem Scenenwechſel Neues auf Neues zu pfropfen, die Haupt- fabel in unaufhörlichem Abbrechen bis zur äußerſten Spannung der Unge- duld hinzuhalten, zeigt durch das Gegentheil des Richtigen recht das Richtige. Die ſtarken ſtoßweiſen Wirkungen ſind, wie ſich zeigen wird, dramatiſch und ein ſolches Haſchen nach denſelben (das jedoch überhaupt unkünſtleriſch iſt und auch im Drama jedes Maaß überſchritte) zeugt zugleich von unſerer Ueberſättigung, die nicht ruht, bis ſie jede Gattung aus den Fugen bringt und in die andere hinüberſteigert. Schon die Fülle des anhängenden Sinnlichen bringt einen Tenor der epiſchen Darſtellung mit ſich: daß man zwiſchen dem Größten und Furchtbarſten ißt, trinkt, ſchläft, ſich kleidet, ſchon das vermittelt die Gegenſätze, füllt die ſchroffen Sprünge aus. Doch iſt gewaltſam Einbrechendes, ergreifend Plötzliches dadurch natürlich nicht unterſagt. Der höhere Grund der mildernden Ueberleitung liegt in der Ruhe des Dichters und in jener Anſchauung, für welche Alles ebenſowohl begründet und begründend, als eine reine und ſelbſtändige Erſcheinung des allſeitig begründeten Weltganzen iſt. Daher wird er auch das Erſchütternde reichlich vorbereiten und in die Breite verhallen laſſen, ohne darum die Gewalt ſeines Ausbruchs zu ſchwächen, denn wir erſchrecken z. B. über ſehr furchtbarem Geräuſch auch wenn wir es erwartet haben. Daher werden ſeine Gemälde „gegliederten Ketten gleichen, in welchen Bewegung aus Bewegung, Figur aus Figur entſpringt, das Ganze wird in ſeinen einzelnen Gruppen durch nirgends unterbrochene Umriſſe eine einzige Figur bilden, — die Empfindungen folgen durch leiſe Uebergänge aufeinander, abſtechende Töne werden durch Zwiſchentöne gemildert, erſchütternde allmälig vorbereitet und ruhig verhallen gelaſſen, — die Handlung geht ununterbrochen fort, jeder Umſtand fließt als nothwendige Folge aus dem Vorigen her und herrſcht ſo das Geſetz durchgängiger Stetigkeit“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 57. 58. 161. 164. 218. 219). Was das Spannen betrifft, ſo darf man dieſe Wirkung allerdings vom Epos nicht ganz ausweiſen; Hektor’s Schickſal z. B. zu erfahren mußte jeder Hörer begierig ſein und dieſe Be- gierde wurde nicht aufgehoben dadurch, daß er es wie das Ende des ganzen Kriegs durch die Sage zum Voraus wußte, denn der Dichter gab dem Ganzen und jedem Theile den friſchen Glanz der Neuheit, wohl aber war dadurch die pathologiſche Gewalt der Neugierde gebrochen und ſo die ideale Intereſſeloſigkeit im Intereſſe geſichert. Wir werden dieſen Punct bei dem Roman wieder aufnehmen und ſagen hier nur ſo viel, daß, wer ein Werk dieſer Gattung künſtleriſch genießen will, immerhin das Ende vorweg leſen mag, um den ſcharfen Pechfaden der Neugierde, mit dem der Roman-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/141>, abgerufen am 03.05.2024.