erscheint daher trotz der Selbständigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht von schneidend radicalem Charakter sein darf, als getragen vom allgemeinen Strome des Weltlebens, auf den er als voller Mensch vielseitig bezogen ist, und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden mag, wird ebensosehr als ein äußeres Bestimmtsein, die That als sinnliche Be- wegung der Außenwelt in der Breite ihrer Erscheinung dargestellt.
Wir unterscheiden das Weltbild des epischen Dichters von seiner Per- sönlichkeit und Stimmung und handeln zuerst von jenem. Hier sind nun, wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle wesentlichen Züge vom Merkmale des Vergangenen abzuleiten, und dazu hat der vorh. §. den Grund gelegt.
Der wesentliche Inhalt des Epos ist Handlung; die Grundaufgabe der Poesie, Persönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842) darzustellen, gilt natürlich auch diesem Zweige und kann durch die folgenden scheinbar widersprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon Aristoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie dramatischen Inhalt, d. h., daß Eine vollständige und vollendete Handlung den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß sie die Vielheit des Geschehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbestimmung gesetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben ist der Unterschied von der bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Inhalt noch bezeichnet haben, und hiemit, wie Aristoteles hervorhebt, von der Geschichtschreibung, deren Verhältniß zur Poesie in §. 848, Anm. besprochen ist. Allein die Handlung im Epos ist vergangen. Im Augenblick ihres Eintritts scheint jede Handlung wie eine aus grundloser Tiefe steigende, nur von sich aus- gehende, im tiefsten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des Wirklichen zu durchbohren; ist sie aber vollendet und vorüber, so zählt man sie selbst zu diesem Complexe. Zunächst einfach, weil nichts mehr an ihr zu ändern ist, sie ist nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück, man überschaut sie im Zusammenhang, man urtheilt pragmatisch, man sucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten und auf weitere Motive und Ursachen zurückweisen; sie erscheint so als Wirkung, als ein Gegebenes; man blickt vorwärts und erkennt sie als Ursache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabsichtigten, also dem Willen, nur sehr mittelbar zusammenhängen. So reiht sich trotz dem innern Unterschiede die Handlung in die Linie aller andern Ursachen und Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, ein- fachen Seins ist, und es stellt sich auf einem Umwege der Begriff der Be- gebenheit wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) sagt, der
erſcheint daher trotz der Selbſtändigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht von ſchneidend radicalem Charakter ſein darf, als getragen vom allgemeinen Strome des Weltlebens, auf den er als voller Menſch vielſeitig bezogen iſt, und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden mag, wird ebenſoſehr als ein äußeres Beſtimmtſein, die That als ſinnliche Be- wegung der Außenwelt in der Breite ihrer Erſcheinung dargeſtellt.
Wir unterſcheiden das Weltbild des epiſchen Dichters von ſeiner Per- ſönlichkeit und Stimmung und handeln zuerſt von jenem. Hier ſind nun, wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle weſentlichen Züge vom Merkmale des Vergangenen abzuleiten, und dazu hat der vorh. §. den Grund gelegt.
Der weſentliche Inhalt des Epos iſt Handlung; die Grundaufgabe der Poeſie, Perſönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842) darzuſtellen, gilt natürlich auch dieſem Zweige und kann durch die folgenden ſcheinbar widerſprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon Ariſtoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie dramatiſchen Inhalt, d. h., daß Eine vollſtändige und vollendete Handlung den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß ſie die Vielheit des Geſchehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbeſtimmung geſetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben iſt der Unterſchied von der bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Inhalt noch bezeichnet haben, und hiemit, wie Ariſtoteles hervorhebt, von der Geſchichtſchreibung, deren Verhältniß zur Poeſie in §. 848, Anm. beſprochen iſt. Allein die Handlung im Epos iſt vergangen. Im Augenblick ihres Eintritts ſcheint jede Handlung wie eine aus grundloſer Tiefe ſteigende, nur von ſich aus- gehende, im tiefſten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des Wirklichen zu durchbohren; iſt ſie aber vollendet und vorüber, ſo zählt man ſie ſelbſt zu dieſem Complexe. Zunächſt einfach, weil nichts mehr an ihr zu ändern iſt, ſie iſt nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück, man überſchaut ſie im Zuſammenhang, man urtheilt pragmatiſch, man ſucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten und auf weitere Motive und Urſachen zurückweiſen; ſie erſcheint ſo als Wirkung, als ein Gegebenes; man blickt vorwärts und erkennt ſie als Urſache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabſichtigten, alſo dem Willen, nur ſehr mittelbar zuſammenhängen. So reiht ſich trotz dem innern Unterſchiede die Handlung in die Linie aller andern Urſachen und Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, ein- fachen Seins iſt, und es ſtellt ſich auf einem Umwege der Begriff der Be- gebenheit wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) ſagt, der
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erſcheint daher trotz der Selbſtändigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht
von ſchneidend radicalem Charakter ſein darf, als getragen vom allgemeinen
Strome des Weltlebens, auf den er als voller Menſch vielſeitig bezogen iſt,
und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden
mag, wird ebenſoſehr als ein äußeres Beſtimmtſein, die That als ſinnliche Be-
wegung der Außenwelt in der Breite ihrer Erſcheinung dargeſtellt.
Wir unterſcheiden das Weltbild des epiſchen Dichters von ſeiner Per-
ſönlichkeit und Stimmung und handeln zuerſt von jenem. Hier ſind nun,
wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und
Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle weſentlichen
Züge vom Merkmale des Vergangenen abzuleiten, und dazu hat der
vorh. §. den Grund gelegt.
Der weſentliche Inhalt des Epos iſt Handlung; die Grundaufgabe
der Poeſie, Perſönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842)
darzuſtellen, gilt natürlich auch dieſem Zweige und kann durch die folgenden
ſcheinbar widerſprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon
Ariſtoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie
dramatiſchen Inhalt, d. h., daß Eine vollſtändige und vollendete Handlung
den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß ſie die Vielheit des
Geſchehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbeſtimmung
geſetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben iſt der Unterſchied von der
bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Inhalt noch bezeichnet haben,
und hiemit, wie Ariſtoteles hervorhebt, von der Geſchichtſchreibung, deren
Verhältniß zur Poeſie in §. 848, Anm. beſprochen iſt. Allein die
Handlung im Epos iſt vergangen. Im Augenblick ihres Eintritts ſcheint
jede Handlung wie eine aus grundloſer Tiefe ſteigende, nur von ſich aus-
gehende, im tiefſten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des
Wirklichen zu durchbohren; iſt ſie aber vollendet und vorüber, ſo zählt man
ſie ſelbſt zu dieſem Complexe. Zunächſt einfach, weil nichts mehr an ihr
zu ändern iſt, ſie iſt nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück,
man überſchaut ſie im Zuſammenhang, man urtheilt pragmatiſch, man
ſucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten
und auf weitere Motive und Urſachen zurückweiſen; ſie erſcheint ſo als
Wirkung, als ein Gegebenes; man blickt vorwärts und erkennt ſie als
Urſache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabſichtigten, alſo
dem Willen, nur ſehr mittelbar zuſammenhängen. So reiht ſich trotz dem
innern Unterſchiede die Handlung in die Linie aller andern Urſachen und
Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, ein-
fachen Seins iſt, und es ſtellt ſich auf einem Umwege der Begriff der Be-
gebenheit wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) ſagt, der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/131>, abgerufen am 16.02.2025.
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