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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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bildung der modernen Form sich ein wesentliches Moment von ihr anzu-
eignen, doch bleibt nach einer andern Seite die Frage über den größeren
Werth, wie bei allen ächten Gegensätzen, amphibolisch liegen. Jenes
Moment ist das eigentlich Metrische, das wir in der schwierigen Abstraction
der allgemeinen Erörterung bisher unbestimmt bald neben dem Rhythmischen
nannten, bald in dasselbe einschlossen: die Verhältnisse der Länge und Kürze
im Unterschiede von denen des Tongewichts, d. h. vom Rhythmischen im
engeren Sinne des Worts. Die griechische Poesie hat diese beiden Seiten
klar und fest ausgebildet und in Harmonie gesetzt. Sie gieng davon aus,
daß sie dreierlei rhythmische Ordnungen feststellte: von drei, vier und fünf
Momenten, entsprechend dem 3/8 , und 5/8 Takte. Wir verfolgen nur
die beiden ersteren Formen mit Uebergehung der dritten, im päonischen
Verse dargestellten, weil diese verwickelte Gestaltung wie aus der Musik,
so auch aus der Poesie verschwunden ist, und haben also eine Form des
ungeraden und eine des geraden Taktverhältnisses vor uns. Daß nun
Tongewicht und Länge in einem Verhältniß der nothwendigen Anziehung
stehen, ist in §. 855 ausgesprochen und diese Anziehung vollendet sich, in-
dem das Taktleben des Rhythmus seine Verwirklichung findet in einer
Sprache, die ein festes, organisch mitgewachsenes, dem Körper der Sylben
wie die anatamischen Proportionen dem organischen unverrückbar einver-
leibtes System von Längen und Kürzen darstellt, zu welchem das Gesetz
der Verlängerung durch Position hinzutritt, dessen Ursprung noch heute aus
der Aussprache von Sylben, die sich mit doppeltem Consonanten schließen,
bei den romanischen Völkern leicht zu erkennen ist. Die zwei ersten Takt-
Momente ziehen sich nun zu einer Länge zusammen, welcher natürlich der
Ictus bleibt, den vorher das erste der drei und vier ursprünglich gleichen
Momente hatte. Die nicht zusammengezogenen Einheiten sind nun Kürzen.
Hiemit wird die rhythmische Form zugleich zur metrischen, d. h. das Taktver-
hältniß stellt sich zugleich als ein bestimmtes Verhältniß von Längen und
Kürzen dar und der einzelne Takt-Abschnitt heißt nun Fuß. So sind die
fallenden Metra, das trochäische und daktylische, entstanden; das letztere erzeugt
durch Zusammenziehung auch des dritten und vierten Moments zu einer
Länge den Spondäus. Es ist nun aber natürlich, daß der Rhythmus sich
weiter eine Form aneignet, die wir in allen Gebieten der Bewegung,
namentlich aber in Gang und Sprung als eine in der Natur der Sache
begründete finden: es ist dieß ein den eigentlichen Absprung, das Abschnellen
vom Boden unterstützender, vorbereitender Ansatz, Vorschlag, Ansprung:
die Anakruse. Durch den Vorantritt eines solchen Moments oder zweier
entsteht eine Verschiebung, Durchkreuzung der ursprünglichen Ordnungen
und bildet sich das jambische Metrum, worin je die Kürze, die im Trochäus
auf die Länge folgte, zum nächsten Abschnitte gezogen wird und so der

bildung der modernen Form ſich ein weſentliches Moment von ihr anzu-
eignen, doch bleibt nach einer andern Seite die Frage über den größeren
Werth, wie bei allen ächten Gegenſätzen, amphiboliſch liegen. Jenes
Moment iſt das eigentlich Metriſche, das wir in der ſchwierigen Abſtraction
der allgemeinen Erörterung bisher unbeſtimmt bald neben dem Rhythmiſchen
nannten, bald in daſſelbe einſchloſſen: die Verhältniſſe der Länge und Kürze
im Unterſchiede von denen des Tongewichts, d. h. vom Rhythmiſchen im
engeren Sinne des Worts. Die griechiſche Poeſie hat dieſe beiden Seiten
klar und feſt ausgebildet und in Harmonie geſetzt. Sie gieng davon aus,
daß ſie dreierlei rhythmiſche Ordnungen feſtſtellte: von drei, vier und fünf
Momenten, entſprechend dem ⅜, und ⅝ Takte. Wir verfolgen nur
die beiden erſteren Formen mit Uebergehung der dritten, im päoniſchen
Verſe dargeſtellten, weil dieſe verwickelte Geſtaltung wie aus der Muſik,
ſo auch aus der Poeſie verſchwunden iſt, und haben alſo eine Form des
ungeraden und eine des geraden Taktverhältniſſes vor uns. Daß nun
Tongewicht und Länge in einem Verhältniß der nothwendigen Anziehung
ſtehen, iſt in §. 855 ausgeſprochen und dieſe Anziehung vollendet ſich, in-
dem das Taktleben des Rhythmus ſeine Verwirklichung findet in einer
Sprache, die ein feſtes, organiſch mitgewachſenes, dem Körper der Sylben
wie die anatamiſchen Proportionen dem organiſchen unverrückbar einver-
leibtes Syſtem von Längen und Kürzen darſtellt, zu welchem das Geſetz
der Verlängerung durch Poſition hinzutritt, deſſen Urſprung noch heute aus
der Ausſprache von Sylben, die ſich mit doppeltem Conſonanten ſchließen,
bei den romaniſchen Völkern leicht zu erkennen iſt. Die zwei erſten Takt-
Momente ziehen ſich nun zu einer Länge zuſammen, welcher natürlich der
Ictus bleibt, den vorher das erſte der drei und vier urſprünglich gleichen
Momente hatte. Die nicht zuſammengezogenen Einheiten ſind nun Kürzen.
Hiemit wird die rhythmiſche Form zugleich zur metriſchen, d. h. das Taktver-
hältniß ſtellt ſich zugleich als ein beſtimmtes Verhältniß von Längen und
Kürzen dar und der einzelne Takt-Abſchnitt heißt nun Fuß. So ſind die
fallenden Metra, das trochäiſche und daktyliſche, entſtanden; das letztere erzeugt
durch Zuſammenziehung auch des dritten und vierten Moments zu einer
Länge den Spondäus. Es iſt nun aber natürlich, daß der Rhythmus ſich
weiter eine Form aneignet, die wir in allen Gebieten der Bewegung,
namentlich aber in Gang und Sprung als eine in der Natur der Sache
begründete finden: es iſt dieß ein den eigentlichen Abſprung, das Abſchnellen
vom Boden unterſtützender, vorbereitender Anſatz, Vorſchlag, Anſprung:
die Anakruſe. Durch den Vorantritt eines ſolchen Moments oder zweier
entſteht eine Verſchiebung, Durchkreuzung der urſprünglichen Ordnungen
und bildet ſich das jambiſche Metrum, worin je die Kürze, die im Trochäus
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[1248/0112] bildung der modernen Form ſich ein weſentliches Moment von ihr anzu- eignen, doch bleibt nach einer andern Seite die Frage über den größeren Werth, wie bei allen ächten Gegenſätzen, amphiboliſch liegen. Jenes Moment iſt das eigentlich Metriſche, das wir in der ſchwierigen Abſtraction der allgemeinen Erörterung bisher unbeſtimmt bald neben dem Rhythmiſchen nannten, bald in daſſelbe einſchloſſen: die Verhältniſſe der Länge und Kürze im Unterſchiede von denen des Tongewichts, d. h. vom Rhythmiſchen im engeren Sinne des Worts. Die griechiſche Poeſie hat dieſe beiden Seiten klar und feſt ausgebildet und in Harmonie geſetzt. Sie gieng davon aus, daß ſie dreierlei rhythmiſche Ordnungen feſtſtellte: von drei, vier und fünf Momenten, entſprechend dem ⅜, [FORMEL] und ⅝ Takte. Wir verfolgen nur die beiden erſteren Formen mit Uebergehung der dritten, im päoniſchen Verſe dargeſtellten, weil dieſe verwickelte Geſtaltung wie aus der Muſik, ſo auch aus der Poeſie verſchwunden iſt, und haben alſo eine Form des ungeraden und eine des geraden Taktverhältniſſes vor uns. Daß nun Tongewicht und Länge in einem Verhältniß der nothwendigen Anziehung ſtehen, iſt in §. 855 ausgeſprochen und dieſe Anziehung vollendet ſich, in- dem das Taktleben des Rhythmus ſeine Verwirklichung findet in einer Sprache, die ein feſtes, organiſch mitgewachſenes, dem Körper der Sylben wie die anatamiſchen Proportionen dem organiſchen unverrückbar einver- leibtes Syſtem von Längen und Kürzen darſtellt, zu welchem das Geſetz der Verlängerung durch Poſition hinzutritt, deſſen Urſprung noch heute aus der Ausſprache von Sylben, die ſich mit doppeltem Conſonanten ſchließen, bei den romaniſchen Völkern leicht zu erkennen iſt. Die zwei erſten Takt- Momente ziehen ſich nun zu einer Länge zuſammen, welcher natürlich der Ictus bleibt, den vorher das erſte der drei und vier urſprünglich gleichen Momente hatte. Die nicht zuſammengezogenen Einheiten ſind nun Kürzen. Hiemit wird die rhythmiſche Form zugleich zur metriſchen, d. h. das Taktver- hältniß ſtellt ſich zugleich als ein beſtimmtes Verhältniß von Längen und Kürzen dar und der einzelne Takt-Abſchnitt heißt nun Fuß. So ſind die fallenden Metra, das trochäiſche und daktyliſche, entſtanden; das letztere erzeugt durch Zuſammenziehung auch des dritten und vierten Moments zu einer Länge den Spondäus. Es iſt nun aber natürlich, daß der Rhythmus ſich weiter eine Form aneignet, die wir in allen Gebieten der Bewegung, namentlich aber in Gang und Sprung als eine in der Natur der Sache begründete finden: es iſt dieß ein den eigentlichen Abſprung, das Abſchnellen vom Boden unterſtützender, vorbereitender Anſatz, Vorſchlag, Anſprung: die Anakruſe. Durch den Vorantritt eines ſolchen Moments oder zweier entſteht eine Verſchiebung, Durchkreuzung der urſprünglichen Ordnungen und bildet ſich das jambiſche Metrum, worin je die Kürze, die im Trochäus auf die Länge folgte, zum nächſten Abſchnitte gezogen wird und ſo der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/112>, abgerufen am 03.05.2024.