Stärke und der Zeitdauer des Tons erscheinen bei organischer Entwicklung diese Unterschiede zugleich als ein bestimmter Wechsel von Kürzen und Längen. Dieses System ist ein reines, selbständiges Kunst-Erzeugniß, das sich über die Sprache als ihr Material überbreitet.
Wir versuchen, zuerst das Wesentliche der poetischen Rhythmik allgemein aufzustellen, wiewohl diese Abstraction schwer und die Hinweisung auf den durchgreifenden Unterschied der concreten Style schon hier nicht zu vermeiden ist. Die rhythmische Form ist in ihrem ursprünglichen Wesen ein reines Taktleben: es folgen sich in geordneter Wiederkehr bestimmte Abschnitte, die sich in Zeit-Einheiten, Momente, Moren von bestimmter Anzahl theilen und von einem unter ihnen, der die stärkere Intention, den Ictus, die Arsis (was in der Musik Thesis heißt), den Accent hat, beherrscht, getragen werden. Mit innerer Nothwendigkeit fällt dieser stärkere Druck auf die erste der von ihm beherrschten Moren, denn ein Fortgang in der Zeit, der sich in Momente theilt, gleicht immer einer Bewegung und diese bedarf eines Ansatzes, Abstoßes, von welchem folgende Bewegungen abhängen und welcher regelmäßig wieder eintritt. Dieses System erweitert sich zur rhythmischen Reihe, indem der einzelne Taktabschnitt im Größern sich so wiederholt, daß ein verstärkter Accent, wie vorher der einfache Einen Abschnitt, so drei Abschnitte beherrscht. Diese Reihen sind nicht mit dem Verse zu verwechseln; der Vers kann aus mehreren Reihen bestehen, oder (durch den Reim) Eine Reihe zerschneiden. -- Der Zeit nach sind die Momente des Takt-Abschnittes ursprünglich gleich; der Unterschied der Länge und Kürze ist nicht, wie so häufig geschieht, mit dem des Accents zu verwechseln. Es steht, wie sich zeigen wird, dem Style, der diese beiden Kräfte in Verbindung setzt, ein anderer gegenüber, der in seiner ursprünglichen, rein nationalen, selbständigen Ausbildung nur Takt-Verhältnisse, keine Längen und Kürzen kennt und erst später auch diese Seite in gewissem Sinne sich aneignet. Dazu wird der- selbe allerdings durch die innere Natur der Sache selbst getrieben, denn zwischen Accent und Länge besteht eine innere Wahlverwandtschaft und der Styl, welcher ursprünglich das im engeren Sinn Rhythmische mit dem Zeitbegriff in Verbindung setzt, ist der organischere, normalere. Intention und Zeitaufwand ziehen nämlich einander darum mit Nothwendigkeit an, weil naturgemäß auf dem stärkeren Theil auch länger verweilt wird. Die Intention, die zugleich Länge ist, wird nun aber zwei der vorher gleichen Momente umfassen und so tritt eine Länge an die Stelle von zwei Kürzen. Nur ist dieß kein völliges Zusammenfallen und es darf nicht schlechthin als eine Unregelmäßigkeit, sondern nur als ein seltener Rückgang auf die noch nicht vollzogene Verbindung von Accent und Länge angesehen werden, wenn im Verse sich eine Länge mit Arsis in zwei Kürzen, deren erste die Arsis
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 80
Stärke und der Zeitdauer des Tons erſcheinen bei organiſcher Entwicklung dieſe Unterſchiede zugleich als ein beſtimmter Wechſel von Kürzen und Längen. Dieſes Syſtem iſt ein reines, ſelbſtändiges Kunſt-Erzeugniß, das ſich über die Sprache als ihr Material überbreitet.
Wir verſuchen, zuerſt das Weſentliche der poetiſchen Rhythmik allgemein aufzuſtellen, wiewohl dieſe Abſtraction ſchwer und die Hinweiſung auf den durchgreifenden Unterſchied der concreten Style ſchon hier nicht zu vermeiden iſt. Die rhythmiſche Form iſt in ihrem urſprünglichen Weſen ein reines Taktleben: es folgen ſich in geordneter Wiederkehr beſtimmte Abſchnitte, die ſich in Zeit-Einheiten, Momente, Moren von beſtimmter Anzahl theilen und von einem unter ihnen, der die ſtärkere Intention, den Ictus, die Arſis (was in der Muſik Theſis heißt), den Accent hat, beherrſcht, getragen werden. Mit innerer Nothwendigkeit fällt dieſer ſtärkere Druck auf die erſte der von ihm beherrſchten Moren, denn ein Fortgang in der Zeit, der ſich in Momente theilt, gleicht immer einer Bewegung und dieſe bedarf eines Anſatzes, Abſtoßes, von welchem folgende Bewegungen abhängen und welcher regelmäßig wieder eintritt. Dieſes Syſtem erweitert ſich zur rhythmiſchen Reihe, indem der einzelne Taktabſchnitt im Größern ſich ſo wiederholt, daß ein verſtärkter Accent, wie vorher der einfache Einen Abſchnitt, ſo drei Abſchnitte beherrſcht. Dieſe Reihen ſind nicht mit dem Verſe zu verwechſeln; der Vers kann aus mehreren Reihen beſtehen, oder (durch den Reim) Eine Reihe zerſchneiden. — Der Zeit nach ſind die Momente des Takt-Abſchnittes urſprünglich gleich; der Unterſchied der Länge und Kürze iſt nicht, wie ſo häufig geſchieht, mit dem des Accents zu verwechſeln. Es ſteht, wie ſich zeigen wird, dem Style, der dieſe beiden Kräfte in Verbindung ſetzt, ein anderer gegenüber, der in ſeiner urſprünglichen, rein nationalen, ſelbſtändigen Ausbildung nur Takt-Verhältniſſe, keine Längen und Kürzen kennt und erſt ſpäter auch dieſe Seite in gewiſſem Sinne ſich aneignet. Dazu wird der- ſelbe allerdings durch die innere Natur der Sache ſelbſt getrieben, denn zwiſchen Accent und Länge beſteht eine innere Wahlverwandtſchaft und der Styl, welcher urſprünglich das im engeren Sinn Rhythmiſche mit dem Zeitbegriff in Verbindung ſetzt, iſt der organiſchere, normalere. Intention und Zeitaufwand ziehen nämlich einander darum mit Nothwendigkeit an, weil naturgemäß auf dem ſtärkeren Theil auch länger verweilt wird. Die Intention, die zugleich Länge iſt, wird nun aber zwei der vorher gleichen Momente umfaſſen und ſo tritt eine Länge an die Stelle von zwei Kürzen. Nur iſt dieß kein völliges Zuſammenfallen und es darf nicht ſchlechthin als eine Unregelmäßigkeit, ſondern nur als ein ſeltener Rückgang auf die noch nicht vollzogene Verbindung von Accent und Länge angeſehen werden, wenn im Verſe ſich eine Länge mit Arſis in zwei Kürzen, deren erſte die Arſis
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 80
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Stärke und der Zeitdauer des Tons erſcheinen bei organiſcher Entwicklung
dieſe Unterſchiede zugleich als ein beſtimmter Wechſel von Kürzen und Längen.
Dieſes Syſtem iſt ein reines, ſelbſtändiges Kunſt-Erzeugniß, das ſich über die
Sprache als ihr Material überbreitet.
Wir verſuchen, zuerſt das Weſentliche der poetiſchen Rhythmik allgemein
aufzuſtellen, wiewohl dieſe Abſtraction ſchwer und die Hinweiſung auf den
durchgreifenden Unterſchied der concreten Style ſchon hier nicht zu vermeiden
iſt. Die rhythmiſche Form iſt in ihrem urſprünglichen Weſen ein reines
Taktleben: es folgen ſich in geordneter Wiederkehr beſtimmte Abſchnitte, die
ſich in Zeit-Einheiten, Momente, Moren von beſtimmter Anzahl theilen
und von einem unter ihnen, der die ſtärkere Intention, den Ictus, die Arſis
(was in der Muſik Theſis heißt), den Accent hat, beherrſcht, getragen werden.
Mit innerer Nothwendigkeit fällt dieſer ſtärkere Druck auf die erſte der von
ihm beherrſchten Moren, denn ein Fortgang in der Zeit, der ſich in
Momente theilt, gleicht immer einer Bewegung und dieſe bedarf eines
Anſatzes, Abſtoßes, von welchem folgende Bewegungen abhängen und welcher
regelmäßig wieder eintritt. Dieſes Syſtem erweitert ſich zur rhythmiſchen
Reihe, indem der einzelne Taktabſchnitt im Größern ſich ſo wiederholt, daß
ein verſtärkter Accent, wie vorher der einfache Einen Abſchnitt, ſo drei
Abſchnitte beherrſcht. Dieſe Reihen ſind nicht mit dem Verſe zu verwechſeln;
der Vers kann aus mehreren Reihen beſtehen, oder (durch den Reim) Eine
Reihe zerſchneiden. — Der Zeit nach ſind die Momente des Takt-Abſchnittes
urſprünglich gleich; der Unterſchied der Länge und Kürze iſt nicht, wie ſo
häufig geſchieht, mit dem des Accents zu verwechſeln. Es ſteht, wie ſich
zeigen wird, dem Style, der dieſe beiden Kräfte in Verbindung ſetzt, ein
anderer gegenüber, der in ſeiner urſprünglichen, rein nationalen, ſelbſtändigen
Ausbildung nur Takt-Verhältniſſe, keine Längen und Kürzen kennt und erſt
ſpäter auch dieſe Seite in gewiſſem Sinne ſich aneignet. Dazu wird der-
ſelbe allerdings durch die innere Natur der Sache ſelbſt getrieben, denn
zwiſchen Accent und Länge beſteht eine innere Wahlverwandtſchaft und der
Styl, welcher urſprünglich das im engeren Sinn Rhythmiſche mit dem
Zeitbegriff in Verbindung ſetzt, iſt der organiſchere, normalere. Intention
und Zeitaufwand ziehen nämlich einander darum mit Nothwendigkeit an,
weil naturgemäß auf dem ſtärkeren Theil auch länger verweilt wird. Die
Intention, die zugleich Länge iſt, wird nun aber zwei der vorher gleichen
Momente umfaſſen und ſo tritt eine Länge an die Stelle von zwei Kürzen.
Nur iſt dieß kein völliges Zuſammenfallen und es darf nicht ſchlechthin als
eine Unregelmäßigkeit, ſondern nur als ein ſeltener Rückgang auf die noch
nicht vollzogene Verbindung von Accent und Länge angeſehen werden, wenn
im Verſe ſich eine Länge mit Arſis in zwei Kürzen, deren erſte die Arſis
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/103>, abgerufen am 07.07.2024.
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