§. 550, Schluß d. Anm.); die Kugel -- um bei dem gebrauchten Bilde zu bleiben -- fährt, ohne Aufschlag und Verweilen im Zwischenraume, direct hinüber in das Herz des Hörers. So faßt es ihn denn auch unmittelbar wie kein anderes Werk der Kunst in seinem Nervenleben und in der ein- fachen Grundform seines Daseins, der Zeit. "Die Musik befängt das Bewußtsein, das keinem Object mehr gegenübersteht und im Verluste seiner Freiheit von dem fortfluthenden Strome der Töne selbst mit fortgerissen wird; -- Ich ist in der Zeit und die Zeit ist das Sein des Subjects selber, daher dringt der Ton, dessen Element die Zeit ist, in das Selbst ein, faßt es in seinem einfachsten Dasein -- das Subject wird als diese Person in Anspruch genommen" -- (Hegel Aesth. Th. 3, S. 148, 149, 151). Die volle Unmittelbarkeit dieser "elementarischen Macht" zeigt sich bekannt- lich besonders im rhythmischen Theile, wo die Wirkung so stark ist, daß sie fast nöthigend auf die Bewegungsorgane übergeht; doch sind es nicht solche in's Physiologische sich verlaufende Reize, worin die ganze Gewalt des Eindrucks sich geltend macht; es ist vielmehr der Affect im Innersten des Gemüths, wie er auf jener dunkeln Nervenbrücke zwischen dem Geistigsten und der, weil in das Innere geworfen, nur um so heißeren Sinnlichkeit schwankt und schwebt (vergl. §. 749, Anm.), und wie ihn die Musik zu- nächst in seiner ungebrochenen pathologischen Kraft aufregt. Die Alten haben die Musik vorzüglich von dieser Seite betrachtet und die Sühnung und Reinigung selbst, die sie von ihr verlangten, stoffartig, obwohl dieß im ethisch-religiösen Sinne, verstanden und darnach diese Kunst unmittelbar für Lebenszwecke verwendet; es fehlte ihnen hier der Standpunct des reinen ästhetischen Scheins. Hält man diesen fest, so kann man auf die Musik ganz das Wort des Aristoteles von der Tragödie anwenden, daß sie die Leidenschaften reinige, indem sie dieselben erweckt. In der Strenge des Lebens hält der Mensch seine Empfindungen mit jener Schaam zurück, welche das Innerste, Weichste wie eine Nacktheit der Seele verhüllt. Es muß einen Ort geben, wo es erlaubt ist, dieser hinschmelzenden Auflösung, diesen stürmischen Aufregungen, diesen rückhaltslosen Geständnissen jeder schönen Schwäche sich ganz hinzugeben, sie recht zu erschöpfen und im Er- schöpfen, durch die Wohlordnung der Form zum freien Schein, zum reinen Bilde einer harmonischen Welt umzugestalten. Schelling sagt, das Gefühl sei schön, aber es solle im Grunde bleiben; hier darf und soll es an die Oberfläche treten, darf seinen eigenen Tag leben, jetzt allein Recht haben, um in dieser Freiheit erst wahrhaft schön zu werden. Allerdings ist die Musik durch die Anschmiegsamkeit ihrer durchaus beweglichen Natur, durch die im Verhältniß zur Massenhaftigkeit der bildenden Kunst ungemein redu- zirte Körperschwere ihrer Werkzeuge ganz anders, als jene, zu unmittelbarer Einwirkung auf das Leben, die Gesellschaft, die Familie, den Einzelnen
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§. 550, Schluß d. Anm.); die Kugel — um bei dem gebrauchten Bilde zu bleiben — fährt, ohne Aufſchlag und Verweilen im Zwiſchenraume, direct hinüber in das Herz des Hörers. So faßt es ihn denn auch unmittelbar wie kein anderes Werk der Kunſt in ſeinem Nervenleben und in der ein- fachen Grundform ſeines Daſeins, der Zeit. „Die Muſik befängt das Bewußtſein, das keinem Object mehr gegenüberſteht und im Verluſte ſeiner Freiheit von dem fortfluthenden Strome der Töne ſelbſt mit fortgeriſſen wird; — Ich iſt in der Zeit und die Zeit iſt das Sein des Subjects ſelber, daher dringt der Ton, deſſen Element die Zeit iſt, in das Selbſt ein, faßt es in ſeinem einfachſten Daſein — das Subject wird als dieſe Perſon in Anſpruch genommen“ — (Hegel Aeſth. Th. 3, S. 148, 149, 151). Die volle Unmittelbarkeit dieſer „elementariſchen Macht“ zeigt ſich bekannt- lich beſonders im rhythmiſchen Theile, wo die Wirkung ſo ſtark iſt, daß ſie faſt nöthigend auf die Bewegungsorgane übergeht; doch ſind es nicht ſolche in’s Phyſiologiſche ſich verlaufende Reize, worin die ganze Gewalt des Eindrucks ſich geltend macht; es iſt vielmehr der Affect im Innerſten des Gemüths, wie er auf jener dunkeln Nervenbrücke zwiſchen dem Geiſtigſten und der, weil in das Innere geworfen, nur um ſo heißeren Sinnlichkeit ſchwankt und ſchwebt (vergl. §. 749, Anm.), und wie ihn die Muſik zu- nächſt in ſeiner ungebrochenen pathologiſchen Kraft aufregt. Die Alten haben die Muſik vorzüglich von dieſer Seite betrachtet und die Sühnung und Reinigung ſelbſt, die ſie von ihr verlangten, ſtoffartig, obwohl dieß im ethiſch-religiöſen Sinne, verſtanden und darnach dieſe Kunſt unmittelbar für Lebenszwecke verwendet; es fehlte ihnen hier der Standpunct des reinen äſthetiſchen Scheins. Hält man dieſen feſt, ſo kann man auf die Muſik ganz das Wort des Ariſtoteles von der Tragödie anwenden, daß ſie die Leidenſchaften reinige, indem ſie dieſelben erweckt. In der Strenge des Lebens hält der Menſch ſeine Empfindungen mit jener Schaam zurück, welche das Innerſte, Weichſte wie eine Nacktheit der Seele verhüllt. Es muß einen Ort geben, wo es erlaubt iſt, dieſer hinſchmelzenden Auflöſung, dieſen ſtürmiſchen Aufregungen, dieſen rückhaltsloſen Geſtändniſſen jeder ſchönen Schwäche ſich ganz hinzugeben, ſie recht zu erſchöpfen und im Er- ſchöpfen, durch die Wohlordnung der Form zum freien Schein, zum reinen Bilde einer harmoniſchen Welt umzugeſtalten. Schelling ſagt, das Gefühl ſei ſchön, aber es ſolle im Grunde bleiben; hier darf und ſoll es an die Oberfläche treten, darf ſeinen eigenen Tag leben, jetzt allein Recht haben, um in dieſer Freiheit erſt wahrhaft ſchön zu werden. Allerdings iſt die Muſik durch die Anſchmiegſamkeit ihrer durchaus beweglichen Natur, durch die im Verhältniß zur Maſſenhaftigkeit der bildenden Kunſt ungemein redu- zirte Körperſchwere ihrer Werkzeuge ganz anders, als jene, zu unmittelbarer Einwirkung auf das Leben, die Geſellſchaft, die Familie, den Einzelnen
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§. 550, Schluß d. Anm.); die Kugel — um bei dem gebrauchten Bilde zu
bleiben — fährt, ohne Aufſchlag und Verweilen im Zwiſchenraume, direct
hinüber in das Herz des Hörers. So faßt es ihn denn auch unmittelbar
wie kein anderes Werk der Kunſt in ſeinem Nervenleben und in der ein-
fachen Grundform ſeines Daſeins, der Zeit. „Die Muſik befängt das
Bewußtſein, das keinem Object mehr gegenüberſteht und im Verluſte ſeiner
Freiheit von dem fortfluthenden Strome der Töne ſelbſt mit fortgeriſſen
wird; — Ich iſt in der Zeit und die Zeit iſt das Sein des Subjects
ſelber, daher dringt der Ton, deſſen Element die Zeit iſt, in das Selbſt ein,
faßt es in ſeinem einfachſten Daſein — das Subject wird als dieſe Perſon
in Anſpruch genommen“ — (Hegel Aeſth. Th. 3, S. 148, 149, 151).
Die volle Unmittelbarkeit dieſer „elementariſchen Macht“ zeigt ſich bekannt-
lich beſonders im rhythmiſchen Theile, wo die Wirkung ſo ſtark iſt, daß ſie
faſt nöthigend auf die Bewegungsorgane übergeht; doch ſind es nicht
ſolche in’s Phyſiologiſche ſich verlaufende Reize, worin die ganze Gewalt
des Eindrucks ſich geltend macht; es iſt vielmehr der Affect im Innerſten
des Gemüths, wie er auf jener dunkeln Nervenbrücke zwiſchen dem Geiſtigſten
und der, weil in das Innere geworfen, nur um ſo heißeren Sinnlichkeit
ſchwankt und ſchwebt (vergl. §. 749, Anm.), und wie ihn die Muſik zu-
nächſt in ſeiner ungebrochenen pathologiſchen Kraft aufregt. Die Alten
haben die Muſik vorzüglich von dieſer Seite betrachtet und die Sühnung
und Reinigung ſelbſt, die ſie von ihr verlangten, ſtoffartig, obwohl dieß
im ethiſch-religiöſen Sinne, verſtanden und darnach dieſe Kunſt unmittelbar
für Lebenszwecke verwendet; es fehlte ihnen hier der Standpunct des reinen
äſthetiſchen Scheins. Hält man dieſen feſt, ſo kann man auf die Muſik
ganz das Wort des Ariſtoteles von der Tragödie anwenden, daß ſie die
Leidenſchaften reinige, indem ſie dieſelben erweckt. In der Strenge des
Lebens hält der Menſch ſeine Empfindungen mit jener Schaam zurück,
welche das Innerſte, Weichſte wie eine Nacktheit der Seele verhüllt. Es
muß einen Ort geben, wo es erlaubt iſt, dieſer hinſchmelzenden Auflöſung,
dieſen ſtürmiſchen Aufregungen, dieſen rückhaltsloſen Geſtändniſſen jeder
ſchönen Schwäche ſich ganz hinzugeben, ſie recht zu erſchöpfen und im Er-
ſchöpfen, durch die Wohlordnung der Form zum freien Schein, zum reinen
Bilde einer harmoniſchen Welt umzugeſtalten. Schelling ſagt, das Gefühl
ſei ſchön, aber es ſolle im Grunde bleiben; hier darf und ſoll es an die
Oberfläche treten, darf ſeinen eigenen Tag leben, jetzt allein Recht haben,
um in dieſer Freiheit erſt wahrhaft ſchön zu werden. Allerdings iſt die
Muſik durch die Anſchmiegſamkeit ihrer durchaus beweglichen Natur, durch
die im Verhältniß zur Maſſenhaftigkeit der bildenden Kunſt ungemein redu-
zirte Körperſchwere ihrer Werkzeuge ganz anders, als jene, zu unmittelbarer
Einwirkung auf das Leben, die Geſellſchaft, die Familie, den Einzelnen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 825. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/63>, abgerufen am 21.11.2024.
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