und einen unendlichen Einklang ihrer Bewegungen in ahnungsvoller Nähe vor das Gemüth führe, und das leistet der Ton nicht als unmittelbar vernommenes Erzittern der Körper ohne Zuthat der Kunst, die ihn doch gerade dem Zusammenhang mit dem Körper, dem er entspringt, zunächst (von der menschlichen Stimme nicht zu sprechen, mit der es eine besondere Bewandtniß hat) entnimmt, in ein künstliches System einreiht, das ihm an sich fremd ist, und nach der Seite seines ursprünglichen Zusammenhangs nur die Klangfarbe in besonderer Beziehung auf eine der Qualitäten des Gefühls (vergl. §. 753 Schlußsatz) übrig läßt. Dieß ist nachher wieder aufzunehmen und zuerst rein für sich die Verarbeitung des Tonmaterials als die völlige Abstraction darzustellen, welche uns das Band jenes Zusam- menhangs ganz zu zerschneiden scheint. Die Musik hat kein Natur- vorbild in dem Sinne, wie die Bildnerkunst, Malerei und Poesie, oder, was dasselbe sagt, sie hat nicht so, wie diese, einen Stoff in der zweiten der Bedeutungen, die §. 55, Anm. 2. aufgeführt sind: dort bedeutete Stoff ein gegebenes Reales mit bestimmtem Inhalt und bestimmter Form, das der Künstler nachbildend umbildet (Süjet). Wir haben also im so verstandenen Stoffe sowohl Inhalt, als auch Form, eine Einheit beider, die in dem noch rohen Zustande des Naturschönen vorliegt. Der Künstler, der einen solchen Stoff bearbeitet, erhöht gleichzeitig beide Seiten so, daß durch die gereinigte Form der Inhalt rein sich offenbart. Aller- dings kann er aber beide Seiten in der Weise auch trennen, daß er zum Zweck seiner Studien einen zweiten Stoff beizieht, an welchem er nur die Form benützt: ein historischer Maler z. B. hat in der Scene, die er dar- stellen will, eine Einheit von Inhalt und Form vor sich, er macht aber zum Zweck der vollkommeneren Darstellung Studien nach andern Stoffen, deren Inhalt zu seinem eigentlichen Gegenstand in gar keiner Beziehung steht, so daß er hier die bloße Form, Gestalt, Tracht u. s. w. nachbildet, um sie dorthin überzutragen. Doch sind dieß nur Ergänzungen, Nach- hülfen, deren er namentlich dann bedarf, wenn er seinen Gegenstand nur aus der Ueberlieferung hat und ihm die blos innerliche Vorstellung nicht ausreicht, dessen Form zur klaren Anschauung zu erheben. Ganz unberück- sichtigt lassen wir die Allegorie, wo die ganze Form aus einem dem Inhalt fremden Gebiet entlehnt wird. In der Musik nun hat man bei der Frage der Nachbildung statt jenes organischen Verhältnisses, wo der Künstler ein ungetrenntes Ganzes an Inhalt und Form vor sich hat, gewöhnlich -- und ebendieß ist schon bezeichnend genug für die besondere Natur dieser Kunst -- vielmehr ein ganz anderes im Sinne; man setzt nämlich als selbstverständlich voraus, daß der Inhalt vom Innern des Tondichters komme und daß er, wofern sich eine Vorlage für die Form dieses Inhalts finden lasse, sie auswärts in der Natur zu suchen habe.
und einen unendlichen Einklang ihrer Bewegungen in ahnungsvoller Nähe vor das Gemüth führe, und das leiſtet der Ton nicht als unmittelbar vernommenes Erzittern der Körper ohne Zuthat der Kunſt, die ihn doch gerade dem Zuſammenhang mit dem Körper, dem er entſpringt, zunächſt (von der menſchlichen Stimme nicht zu ſprechen, mit der es eine beſondere Bewandtniß hat) entnimmt, in ein künſtliches Syſtem einreiht, das ihm an ſich fremd iſt, und nach der Seite ſeines urſprünglichen Zuſammenhangs nur die Klangfarbe in beſonderer Beziehung auf eine der Qualitäten des Gefühls (vergl. §. 753 Schlußſatz) übrig läßt. Dieß iſt nachher wieder aufzunehmen und zuerſt rein für ſich die Verarbeitung des Tonmaterials als die völlige Abſtraction darzuſtellen, welche uns das Band jenes Zuſam- menhangs ganz zu zerſchneiden ſcheint. Die Muſik hat kein Natur- vorbild in dem Sinne, wie die Bildnerkunſt, Malerei und Poeſie, oder, was daſſelbe ſagt, ſie hat nicht ſo, wie dieſe, einen Stoff in der zweiten der Bedeutungen, die §. 55, Anm. 2. aufgeführt ſind: dort bedeutete Stoff ein gegebenes Reales mit beſtimmtem Inhalt und beſtimmter Form, das der Künſtler nachbildend umbildet (Süjet). Wir haben alſo im ſo verſtandenen Stoffe ſowohl Inhalt, als auch Form, eine Einheit beider, die in dem noch rohen Zuſtande des Naturſchönen vorliegt. Der Künſtler, der einen ſolchen Stoff bearbeitet, erhöht gleichzeitig beide Seiten ſo, daß durch die gereinigte Form der Inhalt rein ſich offenbart. Aller- dings kann er aber beide Seiten in der Weiſe auch trennen, daß er zum Zweck ſeiner Studien einen zweiten Stoff beizieht, an welchem er nur die Form benützt: ein hiſtoriſcher Maler z. B. hat in der Scene, die er dar- ſtellen will, eine Einheit von Inhalt und Form vor ſich, er macht aber zum Zweck der vollkommeneren Darſtellung Studien nach andern Stoffen, deren Inhalt zu ſeinem eigentlichen Gegenſtand in gar keiner Beziehung ſteht, ſo daß er hier die bloße Form, Geſtalt, Tracht u. ſ. w. nachbildet, um ſie dorthin überzutragen. Doch ſind dieß nur Ergänzungen, Nach- hülfen, deren er namentlich dann bedarf, wenn er ſeinen Gegenſtand nur aus der Ueberlieferung hat und ihm die blos innerliche Vorſtellung nicht ausreicht, deſſen Form zur klaren Anſchauung zu erheben. Ganz unberück- ſichtigt laſſen wir die Allegorie, wo die ganze Form aus einem dem Inhalt fremden Gebiet entlehnt wird. In der Muſik nun hat man bei der Frage der Nachbildung ſtatt jenes organiſchen Verhältniſſes, wo der Künſtler ein ungetrenntes Ganzes an Inhalt und Form vor ſich hat, gewöhnlich — und ebendieß iſt ſchon bezeichnend genug für die beſondere Natur dieſer Kunſt — vielmehr ein ganz anderes im Sinne; man ſetzt nämlich als ſelbſtverſtändlich voraus, daß der Inhalt vom Innern des Tondichters komme und daß er, wofern ſich eine Vorlage für die Form dieſes Inhalts finden laſſe, ſie auswärts in der Natur zu ſuchen habe.
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[814/0052]
und einen unendlichen Einklang ihrer Bewegungen in ahnungsvoller Nähe
vor das Gemüth führe, und das leiſtet der Ton nicht als unmittelbar
vernommenes Erzittern der Körper ohne Zuthat der Kunſt, die ihn doch
gerade dem Zuſammenhang mit dem Körper, dem er entſpringt, zunächſt
(von der menſchlichen Stimme nicht zu ſprechen, mit der es eine beſondere
Bewandtniß hat) entnimmt, in ein künſtliches Syſtem einreiht, das ihm
an ſich fremd iſt, und nach der Seite ſeines urſprünglichen Zuſammenhangs
nur die Klangfarbe in beſonderer Beziehung auf eine der Qualitäten des
Gefühls (vergl. §. 753 Schlußſatz) übrig läßt. Dieß iſt nachher wieder
aufzunehmen und zuerſt rein für ſich die Verarbeitung des Tonmaterials
als die völlige Abſtraction darzuſtellen, welche uns das Band jenes Zuſam-
menhangs ganz zu zerſchneiden ſcheint. Die Muſik hat kein Natur-
vorbild in dem Sinne, wie die Bildnerkunſt, Malerei und
Poeſie, oder, was daſſelbe ſagt, ſie hat nicht ſo, wie dieſe, einen Stoff
in der zweiten der Bedeutungen, die §. 55, Anm. 2. aufgeführt ſind: dort
bedeutete Stoff ein gegebenes Reales mit beſtimmtem Inhalt und beſtimmter
Form, das der Künſtler nachbildend umbildet (Süjet). Wir haben alſo
im ſo verſtandenen Stoffe ſowohl Inhalt, als auch Form, eine Einheit
beider, die in dem noch rohen Zuſtande des Naturſchönen vorliegt. Der
Künſtler, der einen ſolchen Stoff bearbeitet, erhöht gleichzeitig beide Seiten
ſo, daß durch die gereinigte Form der Inhalt rein ſich offenbart. Aller-
dings kann er aber beide Seiten in der Weiſe auch trennen, daß er zum
Zweck ſeiner Studien einen zweiten Stoff beizieht, an welchem er nur die
Form benützt: ein hiſtoriſcher Maler z. B. hat in der Scene, die er dar-
ſtellen will, eine Einheit von Inhalt und Form vor ſich, er macht aber
zum Zweck der vollkommeneren Darſtellung Studien nach andern Stoffen,
deren Inhalt zu ſeinem eigentlichen Gegenſtand in gar keiner Beziehung
ſteht, ſo daß er hier die bloße Form, Geſtalt, Tracht u. ſ. w. nachbildet,
um ſie dorthin überzutragen. Doch ſind dieß nur Ergänzungen, Nach-
hülfen, deren er namentlich dann bedarf, wenn er ſeinen Gegenſtand nur
aus der Ueberlieferung hat und ihm die blos innerliche Vorſtellung nicht
ausreicht, deſſen Form zur klaren Anſchauung zu erheben. Ganz unberück-
ſichtigt laſſen wir die Allegorie, wo die ganze Form aus einem dem
Inhalt fremden Gebiet entlehnt wird. In der Muſik nun hat man bei
der Frage der Nachbildung ſtatt jenes organiſchen Verhältniſſes, wo der
Künſtler ein ungetrenntes Ganzes an Inhalt und Form vor ſich hat,
gewöhnlich — und ebendieß iſt ſchon bezeichnend genug für die beſondere
Natur dieſer Kunſt — vielmehr ein ganz anderes im Sinne; man ſetzt
nämlich als ſelbſtverſtändlich voraus, daß der Inhalt vom Innern des
Tondichters komme und daß er, wofern ſich eine Vorlage für die Form
dieſes Inhalts finden laſſe, ſie auswärts in der Natur zu ſuchen habe.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 814. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/52>, abgerufen am 21.11.2024.
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