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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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mit den Stoffen des Festen, mit Erde, Holz, Laub, Stein, Metall u. s. w.
hervorrufen, nur sehr dürftige Namen, ja für die Natur der ganzen Ge-
fühlsweise selbst entlehnen wir den Namen aus der Musik, und so nun
für das ganz ähnliche Gebiet im reinen Gefühlsleben aus der Malerei.
Daß aber bei dem Erzittern von Holz, Saiten, Metall eine ganz verschie-
den gefärbte Art der Stimmung entsteht, dieß muß im Innern angelegt
sein. Dort leihen wir in dunkelm Symbolisiren unsere Seele der sichtbaren
Natur, hier der hörbaren, es muß also in der Seele selbst ein bestimmtes,
eigenes Gebiet von Unterschieden verborgen schlummern, das, sobald der
Stoff hinzutritt, wach wird.

§. 754.

Das Gefühl ist als eine rein geistige Form wesentlich Zeitleben. Der
zeitliche Verlauf einer Gefühlsstimmung setzt voraus, daß ein die Welt der
körperlichen Bewegungen in der Natur beherrschendes Messungsgesetz, durch
welches die einzelnen Momente in qualitative Ordnungen sich einreihen, auch
im Gemüthsleben sich ankündigen wird. Nur dunkel und unentwickelt kann
die eine dieser Ordnungen, welche in einer regelmäßigen Wiederkehr gleicher,
durch Accente gegliederter Zeitabschnitte besteht, vor der Erhebung in die Kunst-
form dem Gefühl inwohnen, klarer und bestimmter wird sich die andere, höhere,
geltend machen, vermöge welcher die innersten Stimmungsverhältnisse bestimmte
Grade der Beschleunigung oder Verzögerung im Gange des Gefühls mit sich
bringen. Innerhalb dieser Ordnungen bedingt die Natur der innern Strömung
bald einen punctuellen, bald einen überleitenden Fortgang vom einzelnen Mo-
mente zum andern und fordert bestimmte Ruhepuncte.

Genauer bestimmt ist das Gefühl wie aller Geist Qualität in Zeit-
form, d. h. in der Form des Nacheinander. Diese Qualität ist an sich
unzeitliche reine Intensität, die sich in Zeitmomente auseinanderlegt, aber
als das Identische in ihnen über sie ebenso sehr übergreift und nach ihrem
Ablauf als das aus diesem Auseinander in sich zurückgekehrte einfach In-
tensive sich herstellt. Im Gefühle tritt, weil sich das Intensive, Qualitative
hier nicht zum Lichte des Bewußtseins unterscheidet, der Begriff der Zeit
so ausdrücklich und vorherrschend hervor, daß wir sogar sein Ganzes mit
dem Namen Bewegung, Bewegtsein bezeichnen. Dennoch haben wir die
dunkeln Qualitäten dieser Geistesform, so weit es in der Wortsprache möglich,
zu bestimmen gesucht. Dieselben stellen sich uns nun zunächst als einzelne
Momente, genauer als zeitlose Puncte dar; zwischen ihnen und dem eigent-
lichen Zeitverlaufe muß aber nothwendig etwas in der Mitte liegen zwischen
dem Einzelnen, dem kleinsten Theile, und zwischen dem Allgemeinen, dem

mit den Stoffen des Feſten, mit Erde, Holz, Laub, Stein, Metall u. ſ. w.
hervorrufen, nur ſehr dürftige Namen, ja für die Natur der ganzen Ge-
fühlsweiſe ſelbſt entlehnen wir den Namen aus der Muſik, und ſo nun
für das ganz ähnliche Gebiet im reinen Gefühlsleben aus der Malerei.
Daß aber bei dem Erzittern von Holz, Saiten, Metall eine ganz verſchie-
den gefärbte Art der Stimmung entſteht, dieß muß im Innern angelegt
ſein. Dort leihen wir in dunkelm Symboliſiren unſere Seele der ſichtbaren
Natur, hier der hörbaren, es muß alſo in der Seele ſelbſt ein beſtimmtes,
eigenes Gebiet von Unterſchieden verborgen ſchlummern, das, ſobald der
Stoff hinzutritt, wach wird.

§. 754.

Das Gefühl iſt als eine rein geiſtige Form weſentlich Zeitleben. Der
zeitliche Verlauf einer Gefühlsſtimmung ſetzt voraus, daß ein die Welt der
körperlichen Bewegungen in der Natur beherrſchendes Meſſungsgeſetz, durch
welches die einzelnen Momente in qualitative Ordnungen ſich einreihen, auch
im Gemüthsleben ſich ankündigen wird. Nur dunkel und unentwickelt kann
die eine dieſer Ordnungen, welche in einer regelmäßigen Wiederkehr gleicher,
durch Accente gegliederter Zeitabſchnitte beſteht, vor der Erhebung in die Kunſt-
form dem Gefühl inwohnen, klarer und beſtimmter wird ſich die andere, höhere,
geltend machen, vermöge welcher die innerſten Stimmungsverhältniſſe beſtimmte
Grade der Beſchleunigung oder Verzögerung im Gange des Gefühls mit ſich
bringen. Innerhalb dieſer Ordnungen bedingt die Natur der innern Strömung
bald einen punctuellen, bald einen überleitenden Fortgang vom einzelnen Mo-
mente zum andern und fordert beſtimmte Ruhepuncte.

Genauer beſtimmt iſt das Gefühl wie aller Geiſt Qualität in Zeit-
form, d. h. in der Form des Nacheinander. Dieſe Qualität iſt an ſich
unzeitliche reine Intenſität, die ſich in Zeitmomente auseinanderlegt, aber
als das Identiſche in ihnen über ſie ebenſo ſehr übergreift und nach ihrem
Ablauf als das aus dieſem Auseinander in ſich zurückgekehrte einfach In-
tenſive ſich herſtellt. Im Gefühle tritt, weil ſich das Intenſive, Qualitative
hier nicht zum Lichte des Bewußtſeins unterſcheidet, der Begriff der Zeit
ſo ausdrücklich und vorherrſchend hervor, daß wir ſogar ſein Ganzes mit
dem Namen Bewegung, Bewegtſein bezeichnen. Dennoch haben wir die
dunkeln Qualitäten dieſer Geiſtesform, ſo weit es in der Wortſprache möglich,
zu beſtimmen geſucht. Dieſelben ſtellen ſich uns nun zunächſt als einzelne
Momente, genauer als zeitloſe Puncte dar; zwiſchen ihnen und dem eigent-
lichen Zeitverlaufe muß aber nothwendig etwas in der Mitte liegen zwiſchen
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[803/0041] mit den Stoffen des Feſten, mit Erde, Holz, Laub, Stein, Metall u. ſ. w. hervorrufen, nur ſehr dürftige Namen, ja für die Natur der ganzen Ge- fühlsweiſe ſelbſt entlehnen wir den Namen aus der Muſik, und ſo nun für das ganz ähnliche Gebiet im reinen Gefühlsleben aus der Malerei. Daß aber bei dem Erzittern von Holz, Saiten, Metall eine ganz verſchie- den gefärbte Art der Stimmung entſteht, dieß muß im Innern angelegt ſein. Dort leihen wir in dunkelm Symboliſiren unſere Seele der ſichtbaren Natur, hier der hörbaren, es muß alſo in der Seele ſelbſt ein beſtimmtes, eigenes Gebiet von Unterſchieden verborgen ſchlummern, das, ſobald der Stoff hinzutritt, wach wird. §. 754. Das Gefühl iſt als eine rein geiſtige Form weſentlich Zeitleben. Der zeitliche Verlauf einer Gefühlsſtimmung ſetzt voraus, daß ein die Welt der körperlichen Bewegungen in der Natur beherrſchendes Meſſungsgeſetz, durch welches die einzelnen Momente in qualitative Ordnungen ſich einreihen, auch im Gemüthsleben ſich ankündigen wird. Nur dunkel und unentwickelt kann die eine dieſer Ordnungen, welche in einer regelmäßigen Wiederkehr gleicher, durch Accente gegliederter Zeitabſchnitte beſteht, vor der Erhebung in die Kunſt- form dem Gefühl inwohnen, klarer und beſtimmter wird ſich die andere, höhere, geltend machen, vermöge welcher die innerſten Stimmungsverhältniſſe beſtimmte Grade der Beſchleunigung oder Verzögerung im Gange des Gefühls mit ſich bringen. Innerhalb dieſer Ordnungen bedingt die Natur der innern Strömung bald einen punctuellen, bald einen überleitenden Fortgang vom einzelnen Mo- mente zum andern und fordert beſtimmte Ruhepuncte. Genauer beſtimmt iſt das Gefühl wie aller Geiſt Qualität in Zeit- form, d. h. in der Form des Nacheinander. Dieſe Qualität iſt an ſich unzeitliche reine Intenſität, die ſich in Zeitmomente auseinanderlegt, aber als das Identiſche in ihnen über ſie ebenſo ſehr übergreift und nach ihrem Ablauf als das aus dieſem Auseinander in ſich zurückgekehrte einfach In- tenſive ſich herſtellt. Im Gefühle tritt, weil ſich das Intenſive, Qualitative hier nicht zum Lichte des Bewußtſeins unterſcheidet, der Begriff der Zeit ſo ausdrücklich und vorherrſchend hervor, daß wir ſogar ſein Ganzes mit dem Namen Bewegung, Bewegtſein bezeichnen. Dennoch haben wir die dunkeln Qualitäten dieſer Geiſtesform, ſo weit es in der Wortſprache möglich, zu beſtimmen geſucht. Dieſelben ſtellen ſich uns nun zunächſt als einzelne Momente, genauer als zeitloſe Puncte dar; zwiſchen ihnen und dem eigent- lichen Zeitverlaufe muß aber nothwendig etwas in der Mitte liegen zwiſchen dem Einzelnen, dem kleinſten Theile, und zwiſchen dem Allgemeinen, dem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 803. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/41>, abgerufen am 29.03.2024.