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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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behielt daneben seine chorischen Tänze, die jedoch ebenfalls mehr auf Schau
angelegt waren, als auf bloße Unterhaltung der Tanzenden.

Der moderne Tanz ist vorherrschend geselliger Genuß, hat auf diesem
Gebiete fast kein chorisches Element, keine rhythmischen Massenbewegungen
mehr, vereinigt durchaus die Geschlechter, legt somit den Accent auf das
Vergnügen der Tanzenden, nicht der Zuschauenden und hat kaum ein Be-
wußtsein, daß er auch in dieser Behandlung eigentlich etwas darstellt, und
zwar durchaus Beziehungen der Liebe. Dieß Thema kann an sich subjectiv
genannt werden, und wo es so sehr vorherrscht, wie im modernen Tanze,
begründet es allein schon den Charakter, den dieses Wort bezeichnet; sub-
jectiv ist aber ebensosehr das Absehen vom Darstellungszwecke, die Beschrän-
kung der Tanzenden auf ihre Freude in der Ausübung. Die Italiener
haben darin immer noch antiken Sinn bewahrt, daß mehr für die Zuschauer
getanzt wird, alle romanischen Völker darin, daß sie mehr auf Grazie als
unmittelbaren Genuß sehen. Unser geselliger Tanz ist ferner an Formen
unendlich arm. Allerdings fehlt es ihm nicht an reichen Modificationen
seines herrschenden erotischen Inhalts in den Nationaltänzen, und hier ist
zunächst eine Unterscheidung nachzuholen, die der Tanz mit der Musik und
Poesie gemein hat. Temperament und Charakter der Stämme, Völker,
Zonen legt sich vor allem ausgebildeten Bewußtsein über Sinn, Ausdruck
und Kunstregel in der gleichzeitig erfundenen Tanzmusik und Tanzweise
nieder. Es gibt also im Tanz eine naive Kunst, wie in Poesie und
Musik. Auch die Alten theilten ihre geselligen Tänze neben andern, auf
Gegenstand, Anlaß, Tempo gegründeten Unterscheidungen nach ihrem localen
Ursprung ein, bezeichneten sie mit Stämme- und Völker-Namen und drückten
damit besondere Charaktere aus. Die bewußte Kunst entwickelt ihre Formen
zunächst aus diesem naiven Stoffe und schreitet dann zur eigentlichen Com-
position, endlich bis zur geregelten, dramatischen Handlung fort. Unsre
gebildete Gesellschaft hat, noch nicht für höhere Kunstdarstellung, aber für
correcteren geselligen Genuß verschiedene Nationaltänze aufgenommen, ja
sie recrutirt ihr Tanzbedürfniß eigentlich nur aus dieser Quelle, stößt aber
dem entlehnten Stoffe seinen Naturton ab, statt ihn zu veredeln, ja sie
verstümmelt ihn gern gerade in seinen edelsten Theilen, wie denn z. B.
unser Walzer das Stück eines Tanzes ist, der zuerst im Finden, Fliehen,
scherzenden Schmollen und Meiden, Versöhnung den Roman und erst zuletzt
im längeren Drehen den Jubel der Hochzeit darstellte; wir tanzen phan-
tasielos diese ohne den Roman. Nun fragt es sich aber, ob wir auch die
höhere Kunstform, die umfassende Composition zum reinen Zwecke der Dar-
stellung noch haben, und allerdings besteht sie in gewisser Gestalt, nämlich
im Ballet. Es theilt sich in drei Momente: Massentanz des Chors,
vereinzelter Tanz der aus ihm heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen,

behielt daneben ſeine choriſchen Tänze, die jedoch ebenfalls mehr auf Schau
angelegt waren, als auf bloße Unterhaltung der Tanzenden.

Der moderne Tanz iſt vorherrſchend geſelliger Genuß, hat auf dieſem
Gebiete faſt kein choriſches Element, keine rhythmiſchen Maſſenbewegungen
mehr, vereinigt durchaus die Geſchlechter, legt ſomit den Accent auf das
Vergnügen der Tanzenden, nicht der Zuſchauenden und hat kaum ein Be-
wußtſein, daß er auch in dieſer Behandlung eigentlich etwas darſtellt, und
zwar durchaus Beziehungen der Liebe. Dieß Thema kann an ſich ſubjectiv
genannt werden, und wo es ſo ſehr vorherrſcht, wie im modernen Tanze,
begründet es allein ſchon den Charakter, den dieſes Wort bezeichnet; ſub-
jectiv iſt aber ebenſoſehr das Abſehen vom Darſtellungszwecke, die Beſchrän-
kung der Tanzenden auf ihre Freude in der Ausübung. Die Italiener
haben darin immer noch antiken Sinn bewahrt, daß mehr für die Zuſchauer
getanzt wird, alle romaniſchen Völker darin, daß ſie mehr auf Grazie als
unmittelbaren Genuß ſehen. Unſer geſelliger Tanz iſt ferner an Formen
unendlich arm. Allerdings fehlt es ihm nicht an reichen Modificationen
ſeines herrſchenden erotiſchen Inhalts in den Nationaltänzen, und hier iſt
zunächſt eine Unterſcheidung nachzuholen, die der Tanz mit der Muſik und
Poeſie gemein hat. Temperament und Charakter der Stämme, Völker,
Zonen legt ſich vor allem ausgebildeten Bewußtſein über Sinn, Ausdruck
und Kunſtregel in der gleichzeitig erfundenen Tanzmuſik und Tanzweiſe
nieder. Es gibt alſo im Tanz eine naive Kunſt, wie in Poeſie und
Muſik. Auch die Alten theilten ihre geſelligen Tänze neben andern, auf
Gegenſtand, Anlaß, Tempo gegründeten Unterſcheidungen nach ihrem localen
Urſprung ein, bezeichneten ſie mit Stämme- und Völker-Namen und drückten
damit beſondere Charaktere aus. Die bewußte Kunſt entwickelt ihre Formen
zunächſt aus dieſem naiven Stoffe und ſchreitet dann zur eigentlichen Com-
poſition, endlich bis zur geregelten, dramatiſchen Handlung fort. Unſre
gebildete Geſellſchaft hat, noch nicht für höhere Kunſtdarſtellung, aber für
correcteren geſelligen Genuß verſchiedene Nationaltänze aufgenommen, ja
ſie recrutirt ihr Tanzbedürfniß eigentlich nur aus dieſer Quelle, ſtößt aber
dem entlehnten Stoffe ſeinen Naturton ab, ſtatt ihn zu veredeln, ja ſie
verſtümmelt ihn gern gerade in ſeinen edelſten Theilen, wie denn z. B.
unſer Walzer das Stück eines Tanzes iſt, der zuerſt im Finden, Fliehen,
ſcherzenden Schmollen und Meiden, Verſöhnung den Roman und erſt zuletzt
im längeren Drehen den Jubel der Hochzeit darſtellte; wir tanzen phan-
taſielos dieſe ohne den Roman. Nun fragt es ſich aber, ob wir auch die
höhere Kunſtform, die umfaſſende Compoſition zum reinen Zwecke der Dar-
ſtellung noch haben, und allerdings beſteht ſie in gewiſſer Geſtalt, nämlich
im Ballet. Es theilt ſich in drei Momente: Maſſentanz des Chors,
vereinzelter Tanz der aus ihm heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen,

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[1157/0395] behielt daneben ſeine choriſchen Tänze, die jedoch ebenfalls mehr auf Schau angelegt waren, als auf bloße Unterhaltung der Tanzenden. Der moderne Tanz iſt vorherrſchend geſelliger Genuß, hat auf dieſem Gebiete faſt kein choriſches Element, keine rhythmiſchen Maſſenbewegungen mehr, vereinigt durchaus die Geſchlechter, legt ſomit den Accent auf das Vergnügen der Tanzenden, nicht der Zuſchauenden und hat kaum ein Be- wußtſein, daß er auch in dieſer Behandlung eigentlich etwas darſtellt, und zwar durchaus Beziehungen der Liebe. Dieß Thema kann an ſich ſubjectiv genannt werden, und wo es ſo ſehr vorherrſcht, wie im modernen Tanze, begründet es allein ſchon den Charakter, den dieſes Wort bezeichnet; ſub- jectiv iſt aber ebenſoſehr das Abſehen vom Darſtellungszwecke, die Beſchrän- kung der Tanzenden auf ihre Freude in der Ausübung. Die Italiener haben darin immer noch antiken Sinn bewahrt, daß mehr für die Zuſchauer getanzt wird, alle romaniſchen Völker darin, daß ſie mehr auf Grazie als unmittelbaren Genuß ſehen. Unſer geſelliger Tanz iſt ferner an Formen unendlich arm. Allerdings fehlt es ihm nicht an reichen Modificationen ſeines herrſchenden erotiſchen Inhalts in den Nationaltänzen, und hier iſt zunächſt eine Unterſcheidung nachzuholen, die der Tanz mit der Muſik und Poeſie gemein hat. Temperament und Charakter der Stämme, Völker, Zonen legt ſich vor allem ausgebildeten Bewußtſein über Sinn, Ausdruck und Kunſtregel in der gleichzeitig erfundenen Tanzmuſik und Tanzweiſe nieder. Es gibt alſo im Tanz eine naive Kunſt, wie in Poeſie und Muſik. Auch die Alten theilten ihre geſelligen Tänze neben andern, auf Gegenſtand, Anlaß, Tempo gegründeten Unterſcheidungen nach ihrem localen Urſprung ein, bezeichneten ſie mit Stämme- und Völker-Namen und drückten damit beſondere Charaktere aus. Die bewußte Kunſt entwickelt ihre Formen zunächſt aus dieſem naiven Stoffe und ſchreitet dann zur eigentlichen Com- poſition, endlich bis zur geregelten, dramatiſchen Handlung fort. Unſre gebildete Geſellſchaft hat, noch nicht für höhere Kunſtdarſtellung, aber für correcteren geſelligen Genuß verſchiedene Nationaltänze aufgenommen, ja ſie recrutirt ihr Tanzbedürfniß eigentlich nur aus dieſer Quelle, ſtößt aber dem entlehnten Stoffe ſeinen Naturton ab, ſtatt ihn zu veredeln, ja ſie verſtümmelt ihn gern gerade in ſeinen edelſten Theilen, wie denn z. B. unſer Walzer das Stück eines Tanzes iſt, der zuerſt im Finden, Fliehen, ſcherzenden Schmollen und Meiden, Verſöhnung den Roman und erſt zuletzt im längeren Drehen den Jubel der Hochzeit darſtellte; wir tanzen phan- taſielos dieſe ohne den Roman. Nun fragt es ſich aber, ob wir auch die höhere Kunſtform, die umfaſſende Compoſition zum reinen Zwecke der Dar- ſtellung noch haben, und allerdings beſteht ſie in gewiſſer Geſtalt, nämlich im Ballet. Es theilt ſich in drei Momente: Maſſentanz des Chors, vereinzelter Tanz der aus ihm heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/395>, abgerufen am 22.11.2024.