wie das Gesammtkunstwerk mit seinen geschlossenen Formen überhaupt; nicht die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchsichtiges hat und gerade auch hiedurch auflösend und erweichend wirkt, sondern eine ideale Harmonie, die Harmonie der Reinheit distincter Klänge, die Harmonie der klar durch- sichtigen, direct symbolischen Stimmungsveranschaulichung, der Haltung und der Gemessenheit war es, was man wollte; man verschmähte, weil man die Musik wie die andern Künste plastisch auffaßte, ihr subjectives malerisches Element, das nun einmal verschlungenere Tonbewegungen und Tonver- knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunst, wo sie öffentlich auftrat, es zuließ. Die Musik mußte aber mit diesem directen Idealismus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerst klar und scharf unterschied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach schönen Stimmungsausdruck suchte; erst im Gegensatz zu der hiemit gegebenen typischen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders scharf geschiedener Ton- geschlechter und zu der Kälte und Leblosigkeit des monotonen Ein- und Octavenklangs konnte sich der Schmelz, der modulatorische Fluß, die Weich- heit und Lebendigkeit harmonischer Musik entwickeln.
§. 824.
Die Impulse, welche das Christenthum mit seinem das Gemüth im1. Innersten erfassenden und aufschließenden Bewußtsein des ebenso tiefen als ewig zur Versöhnung aufgehobenen Gegensatzes zwischen dem Endlichen und Unend- lichen der empfindenden Phantasie gegeben hatte, schaffen nicht sogleich eine wesentlich neue musikalische Kunstform. Die Kirche erhält die höhere Musik und rettet sie aus dem Alterthum in's Mittelalter herüber, sie stellt den Aus- druck als allein bestimmendes Prinzip auf, gibt dem Gesang mehr Innigkeit und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typischen Formen fest. Die Melodie bleibt Sprechgesang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort- schreitend (Cantus planus), einstimmig, die Anfänge zu harmonischer Begleitung gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen diese2. Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang des Mittelalters zur Polyphonie fortschreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit einer vollern und tiefern musikalischen Darstellung realisirt sich nur allmälig, da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächst gegen die Melodie sich ver- selbständigt, gegen die Rücksicht auf den Stimmungsausdruck sich abschließt und in eine leere Systematik, in eine abstracte Form ausartet, welche der Geist zunächst noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche er aber beharrlich festhält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter Individualisirung der Stimmführung und gesetzmäßigen Fortschritts der Ton- folge vertreten ist.
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wie das Geſammtkunſtwerk mit ſeinen geſchloſſenen Formen überhaupt; nicht die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchſichtiges hat und gerade auch hiedurch auflöſend und erweichend wirkt, ſondern eine ideale Harmonie, die Harmonie der Reinheit diſtincter Klänge, die Harmonie der klar durch- ſichtigen, direct ſymboliſchen Stimmungsveranſchaulichung, der Haltung und der Gemeſſenheit war es, was man wollte; man verſchmähte, weil man die Muſik wie die andern Künſte plaſtiſch auffaßte, ihr ſubjectives maleriſches Element, das nun einmal verſchlungenere Tonbewegungen und Tonver- knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunſt, wo ſie öffentlich auftrat, es zuließ. Die Muſik mußte aber mit dieſem directen Idealiſmus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerſt klar und ſcharf unterſchied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach ſchönen Stimmungsausdruck ſuchte; erſt im Gegenſatz zu der hiemit gegebenen typiſchen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders ſcharf geſchiedener Ton- geſchlechter und zu der Kälte und Lebloſigkeit des monotonen Ein- und Octavenklangs konnte ſich der Schmelz, der modulatoriſche Fluß, die Weich- heit und Lebendigkeit harmoniſcher Muſik entwickeln.
§. 824.
Die Impulſe, welche das Chriſtenthum mit ſeinem das Gemüth im1. Innerſten erfaſſenden und aufſchließenden Bewußtſein des ebenſo tiefen als ewig zur Verſöhnung aufgehobenen Gegenſatzes zwiſchen dem Endlichen und Unend- lichen der empfindenden Phantaſie gegeben hatte, ſchaffen nicht ſogleich eine weſentlich neue muſikaliſche Kunſtform. Die Kirche erhält die höhere Muſik und rettet ſie aus dem Alterthum in’s Mittelalter herüber, ſie ſtellt den Aus- druck als allein beſtimmendes Prinzip auf, gibt dem Geſang mehr Innigkeit und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typiſchen Formen feſt. Die Melodie bleibt Sprechgeſang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort- ſchreitend (Cantus planus), einſtimmig, die Anfänge zu harmoniſcher Begleitung gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen dieſe2. Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang des Mittelalters zur Polyphonie fortſchreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit einer vollern und tiefern muſikaliſchen Darſtellung realiſirt ſich nur allmälig, da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächſt gegen die Melodie ſich ver- ſelbſtändigt, gegen die Rückſicht auf den Stimmungsausdruck ſich abſchließt und in eine leere Syſtematik, in eine abſtracte Form ausartet, welche der Geiſt zunächſt noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche er aber beharrlich feſthält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter Individualiſirung der Stimmführung und geſetzmäßigen Fortſchritts der Ton- folge vertreten iſt.
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wie das Geſammtkunſtwerk mit ſeinen geſchloſſenen Formen überhaupt; nicht
die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchſichtiges hat und gerade
auch hiedurch auflöſend und erweichend wirkt, ſondern eine ideale Harmonie,
die Harmonie der Reinheit diſtincter Klänge, die Harmonie der klar durch-
ſichtigen, direct ſymboliſchen Stimmungsveranſchaulichung, der Haltung und
der Gemeſſenheit war es, was man wollte; man verſchmähte, weil man die
Muſik wie die andern Künſte plaſtiſch auffaßte, ihr ſubjectives maleriſches
Element, das nun einmal verſchlungenere Tonbewegungen und Tonver-
knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunſt, wo ſie
öffentlich auftrat, es zuließ. Die Muſik mußte aber mit dieſem directen
Idealiſmus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerſt klar und ſcharf
unterſchied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach
ſchönen Stimmungsausdruck ſuchte; erſt im Gegenſatz zu der hiemit gegebenen
typiſchen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders ſcharf geſchiedener Ton-
geſchlechter und zu der Kälte und Lebloſigkeit des monotonen Ein- und
Octavenklangs konnte ſich der Schmelz, der modulatoriſche Fluß, die Weich-
heit und Lebendigkeit harmoniſcher Muſik entwickeln.
§. 824.
Die Impulſe, welche das Chriſtenthum mit ſeinem das Gemüth im
Innerſten erfaſſenden und aufſchließenden Bewußtſein des ebenſo tiefen als ewig
zur Verſöhnung aufgehobenen Gegenſatzes zwiſchen dem Endlichen und Unend-
lichen der empfindenden Phantaſie gegeben hatte, ſchaffen nicht ſogleich eine
weſentlich neue muſikaliſche Kunſtform. Die Kirche erhält die höhere Muſik
und rettet ſie aus dem Alterthum in’s Mittelalter herüber, ſie ſtellt den Aus-
druck als allein beſtimmendes Prinzip auf, gibt dem Geſang mehr Innigkeit
und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typiſchen Formen
feſt. Die Melodie bleibt Sprechgeſang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort-
ſchreitend (Cantus planus), einſtimmig, die Anfänge zu harmoniſcher Begleitung
gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen dieſe
Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang
des Mittelalters zur Polyphonie fortſchreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit
einer vollern und tiefern muſikaliſchen Darſtellung realiſirt ſich nur allmälig,
da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächſt gegen die Melodie ſich ver-
ſelbſtändigt, gegen die Rückſicht auf den Stimmungsausdruck ſich abſchließt und
in eine leere Syſtematik, in eine abſtracte Form ausartet, welche der Geiſt
zunächſt noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche
er aber beharrlich feſthält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter
Individualiſirung der Stimmführung und geſetzmäßigen Fortſchritts der Ton-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/367>, abgerufen am 25.11.2024.
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