gleichmäßige Haltung, bestimmten Styl, wie ihn z. B. kirchliche Zwecke fordern, zu erhalten und zu bewahren; die Theorie fand sich, sobald man in der künstlerischen Gestaltung des Tonmaterials zu bestimmten Resultaten, zur Unterscheidung von Tonarten und Tongeschlechtern, der consonirenden und dissonirenden Accorde, der verschiedenen Arten der Modulation, der verschiedenen Formen der Stimmverflechtung (Contrapunct u. s. f.), der Gesetze der Gliederung der Tonstücke (der Arien, der Marsch- und Tanzmusik, der Ouvertüre und Symphonie) vorgedrungen war, mit Naturnothwendigkeit getrieben, diese Resultate festzuhalten, in's Einzelne auszubilden, sie in Systeme zu bringen, welche der Composition die Gesetzmäßigkeit und Methode verleihen sollten, die gerade der Musik so nöthig ist wegen der Flüssigkeit und Freiheit ihres ganzen Wesens; die verschiedenen Zeitalter übten einen ähnlichen Zwang aus durch den Geschmack, der zwar stets wechselnd, aber doch unter entschiedenem Einfluß auf die Kunst für gewisse Compositions- gattungen (z. B. Contrapunct, Madrigal), für die eine oder andere Manier der musikalischen Figuren (z. B. der Arie), der Instrumentation u. s. f. sich entschied, indem jede Zeit vermöge ihrer ganzen Bildungs- und Anschauungs- weise unwillkürlich eine Vorliebe für Formen hat, welche derselben irgendwie entsprechen. Gerade der freisten aller Künste hat sich so ein Formalismus typischer Observanz, grübelnder Theorie, einengender Despotie des Geschmacks angehängt, der sie wiederholt mit Erstarrung und Veräußerlichung bedrohte, ebenso aber auch durch seine Einseitigkeit in gewissen Epochen ein nur um so kräftigeres Erwachen des freien Prinzips hervorrief; die Geschichte der Musik geht nicht in gerader Linie vorwärts, sondern in dem fortwährenden Wechsel und Kampf der beiden entgegengesetzten Prinzipien, deren jedes sein Recht, aber auch jedes, wo es für sich sein will, seine Einseitigkeit hat. Auch der Gegensatz des directen und indirecten Idealismus nimmt nach einer Seite hin an dem Kampfe des formalen und des freien Prinzips Theil; der directe Idealismus mit seiner Tendenz auf Schönheit der musi- kalischen Gebilde schafft sich auch sogleich feste Formen, die er allerdings mit schönem Inhalt (Ausdruck) erfüllt, die aber nur um so mehr sich zu fixiren, sich als unabänderlich geltend zu machen suchen, je mehr in ihnen und mittelst ihrer geleistet worden ist, er wählt seinem ganzen Prinzip gemäß einfachere Harmonieen, Rhythmen, einfachere Gliederungen der Theile, Sätze und Tonstücke und stellt hiemit unabsichtlich feste Typen hin, die sodann der indirecte Idealismus, um sich frei und voll zu bewegen, sprengen muß, so daß dieser letztere zu seinen übrigen Eigenschaften, mit denen er dem directen gegenübersteht, auch noch die Tendenz auf reine Freiheit, die Neigung zu transscendentem Ueberfliegen fester Maaße und Grenzen hinzu erhält; der indirecte Idealismus der Malerei hat stets sein Maaß an den gegebenen Formen der Wirklichkeit, aber die Musik hat ein solches nicht, sie scheint
gleichmäßige Haltung, beſtimmten Styl, wie ihn z. B. kirchliche Zwecke fordern, zu erhalten und zu bewahren; die Theorie fand ſich, ſobald man in der künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials zu beſtimmten Reſultaten, zur Unterſcheidung von Tonarten und Tongeſchlechtern, der conſonirenden und diſſonirenden Accorde, der verſchiedenen Arten der Modulation, der verſchiedenen Formen der Stimmverflechtung (Contrapunct u. ſ. f.), der Geſetze der Gliederung der Tonſtücke (der Arien, der Marſch- und Tanzmuſik, der Ouvertüre und Symphonie) vorgedrungen war, mit Naturnothwendigkeit getrieben, dieſe Reſultate feſtzuhalten, in’s Einzelne auszubilden, ſie in Syſteme zu bringen, welche der Compoſition die Geſetzmäßigkeit und Methode verleihen ſollten, die gerade der Muſik ſo nöthig iſt wegen der Flüſſigkeit und Freiheit ihres ganzen Weſens; die verſchiedenen Zeitalter übten einen ähnlichen Zwang aus durch den Geſchmack, der zwar ſtets wechſelnd, aber doch unter entſchiedenem Einfluß auf die Kunſt für gewiſſe Compoſitions- gattungen (z. B. Contrapunct, Madrigal), für die eine oder andere Manier der muſikaliſchen Figuren (z. B. der Arie), der Inſtrumentation u. ſ. f. ſich entſchied, indem jede Zeit vermöge ihrer ganzen Bildungs- und Anſchauungs- weiſe unwillkürlich eine Vorliebe für Formen hat, welche derſelben irgendwie entſprechen. Gerade der freiſten aller Künſte hat ſich ſo ein Formalismus typiſcher Obſervanz, grübelnder Theorie, einengender Deſpotie des Geſchmacks angehängt, der ſie wiederholt mit Erſtarrung und Veräußerlichung bedrohte, ebenſo aber auch durch ſeine Einſeitigkeit in gewiſſen Epochen ein nur um ſo kräftigeres Erwachen des freien Prinzips hervorrief; die Geſchichte der Muſik geht nicht in gerader Linie vorwärts, ſondern in dem fortwährenden Wechſel und Kampf der beiden entgegengeſetzten Prinzipien, deren jedes ſein Recht, aber auch jedes, wo es für ſich ſein will, ſeine Einſeitigkeit hat. Auch der Gegenſatz des directen und indirecten Idealiſmus nimmt nach einer Seite hin an dem Kampfe des formalen und des freien Prinzips Theil; der directe Idealiſmus mit ſeiner Tendenz auf Schönheit der muſi- kaliſchen Gebilde ſchafft ſich auch ſogleich feſte Formen, die er allerdings mit ſchönem Inhalt (Ausdruck) erfüllt, die aber nur um ſo mehr ſich zu fixiren, ſich als unabänderlich geltend zu machen ſuchen, je mehr in ihnen und mittelſt ihrer geleiſtet worden iſt, er wählt ſeinem ganzen Prinzip gemäß einfachere Harmonieen, Rhythmen, einfachere Gliederungen der Theile, Sätze und Tonſtücke und ſtellt hiemit unabſichtlich feſte Typen hin, die ſodann der indirecte Idealiſmus, um ſich frei und voll zu bewegen, ſprengen muß, ſo daß dieſer letztere zu ſeinen übrigen Eigenſchaften, mit denen er dem directen gegenüberſteht, auch noch die Tendenz auf reine Freiheit, die Neigung zu transſcendentem Ueberfliegen feſter Maaße und Grenzen hinzu erhält; der indirecte Idealiſmus der Malerei hat ſtets ſein Maaß an den gegebenen Formen der Wirklichkeit, aber die Muſik hat ein ſolches nicht, ſie ſcheint
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[1124/0362]
gleichmäßige Haltung, beſtimmten Styl, wie ihn z. B. kirchliche Zwecke
fordern, zu erhalten und zu bewahren; die Theorie fand ſich, ſobald man
in der künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials zu beſtimmten Reſultaten,
zur Unterſcheidung von Tonarten und Tongeſchlechtern, der conſonirenden
und diſſonirenden Accorde, der verſchiedenen Arten der Modulation, der
verſchiedenen Formen der Stimmverflechtung (Contrapunct u. ſ. f.), der Geſetze
der Gliederung der Tonſtücke (der Arien, der Marſch- und Tanzmuſik, der
Ouvertüre und Symphonie) vorgedrungen war, mit Naturnothwendigkeit
getrieben, dieſe Reſultate feſtzuhalten, in’s Einzelne auszubilden, ſie in
Syſteme zu bringen, welche der Compoſition die Geſetzmäßigkeit und Methode
verleihen ſollten, die gerade der Muſik ſo nöthig iſt wegen der Flüſſigkeit
und Freiheit ihres ganzen Weſens; die verſchiedenen Zeitalter übten einen
ähnlichen Zwang aus durch den Geſchmack, der zwar ſtets wechſelnd, aber
doch unter entſchiedenem Einfluß auf die Kunſt für gewiſſe Compoſitions-
gattungen (z. B. Contrapunct, Madrigal), für die eine oder andere Manier
der muſikaliſchen Figuren (z. B. der Arie), der Inſtrumentation u. ſ. f. ſich
entſchied, indem jede Zeit vermöge ihrer ganzen Bildungs- und Anſchauungs-
weiſe unwillkürlich eine Vorliebe für Formen hat, welche derſelben irgendwie
entſprechen. Gerade der freiſten aller Künſte hat ſich ſo ein Formalismus
typiſcher Obſervanz, grübelnder Theorie, einengender Deſpotie des Geſchmacks
angehängt, der ſie wiederholt mit Erſtarrung und Veräußerlichung bedrohte,
ebenſo aber auch durch ſeine Einſeitigkeit in gewiſſen Epochen ein nur um
ſo kräftigeres Erwachen des freien Prinzips hervorrief; die Geſchichte der
Muſik geht nicht in gerader Linie vorwärts, ſondern in dem fortwährenden
Wechſel und Kampf der beiden entgegengeſetzten Prinzipien, deren jedes ſein
Recht, aber auch jedes, wo es für ſich ſein will, ſeine Einſeitigkeit hat.
Auch der Gegenſatz des directen und indirecten Idealiſmus nimmt
nach einer Seite hin an dem Kampfe des formalen und des freien Prinzips
Theil; der directe Idealiſmus mit ſeiner Tendenz auf Schönheit der muſi-
kaliſchen Gebilde ſchafft ſich auch ſogleich feſte Formen, die er allerdings mit
ſchönem Inhalt (Ausdruck) erfüllt, die aber nur um ſo mehr ſich zu fixiren,
ſich als unabänderlich geltend zu machen ſuchen, je mehr in ihnen und
mittelſt ihrer geleiſtet worden iſt, er wählt ſeinem ganzen Prinzip gemäß
einfachere Harmonieen, Rhythmen, einfachere Gliederungen der Theile, Sätze
und Tonſtücke und ſtellt hiemit unabſichtlich feſte Typen hin, die ſodann der
indirecte Idealiſmus, um ſich frei und voll zu bewegen, ſprengen muß, ſo
daß dieſer letztere zu ſeinen übrigen Eigenſchaften, mit denen er dem directen
gegenüberſteht, auch noch die Tendenz auf reine Freiheit, die Neigung zu
transſcendentem Ueberfliegen feſter Maaße und Grenzen hinzu erhält; der
indirecte Idealiſmus der Malerei hat ſtets ſein Maaß an den gegebenen
Formen der Wirklichkeit, aber die Muſik hat ein ſolches nicht, ſie ſcheint
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/362>, abgerufen am 25.11.2024.
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