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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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die hiedurch momentan beeinträchtigte Continuität des Fortgangs stellt das
Orchester her, indem es Alles stets mit gleich unermüdeter Beweglichkeit
begleitet, den Faden stets lebendig weiter führt, Pausen ausfüllt, Uebergänge
(wie z. B. im Sextett des Don Juan) von einer Wendung der Handlung
zur andern bildet u. s. f. Das Orchester beginnt die Handlung mit der
Ouvertüre (deren Weglassung den Uebelstand mit sich führt, daß wir so
nicht gleich diese zusammenhaltende, hiemit auch den Totaleindruck erhöhende
Grundlage des Ganzen bekommen), es leitet sie in belebtem Gange fort
durch alle Wechsel, hebt sich und senkt sich, vereinfacht und verstärkt sich
mit ihr, bezeichnet ihre Höhe und Ruhepuncte, ihre Verwicklungen und ihre
Abwicklung und schließt sie mit Kraft und Bestimmtheit ab, obwohl es hier
auf eine der Ouvertüre entsprechende reichere Entfaltung seiner Mittel ver-
zichten muß, indem ein hintennachkommender Nachhall der so reich bewegten
Musik, mit welcher es die Handlung begleitete, nur matt und schwach er-
scheinen würde; die dramatische Musik kann nicht enden mit einem lyrischen
Nachklang, und an diesem Puncte bleibt daher der symmetrische Bau der
Oper unvollendet, auch dieß einer der Fälle, in welchen die Musik die
Strenge der Form dem Ausdruck unterordnen muß.

c.
Die Geschichte der Musik.
§. 822.

1.

Die Geschichte der Musik zeigt eine weit langsamere Entwicklung als die
der übrigen Künste; die äußeren Momente, daß die Musik als begleitende Kunst
sich schwerer zur Selbständigkeit entfaltet, und daß das Tonmaterial ohne be-
stimmtes Naturvorbild größtentheils erst zu entdecken und zu gestalten ist, ehe
es Mittel eines künstlerischen musikalischen Ausdrucks werden kann, wirken mit
der Idealität und Innerlichkeit des Wesens der Musik selbst zu diesem Resultate
2.zusammen. Das treibende Motiv der Entwicklung ist auch hier der Gegensatz
und Streit der beiden Stylprinzipien, des directen und indirecten Idealismus,
zu welchem aber noch ein weiteres Moment, der Kampf des abstract formali-
stischen Prinzips mit dem des freien Gefühlsausdrucks hinzukommt.

1. Die formal technischen Schwierigkeiten sind bei der Musik größer
als bei andern Künsten. Sie tritt zuerst unselbständig als Verstärkung der

die hiedurch momentan beeinträchtigte Continuität des Fortgangs ſtellt das
Orcheſter her, indem es Alles ſtets mit gleich unermüdeter Beweglichkeit
begleitet, den Faden ſtets lebendig weiter führt, Pauſen ausfüllt, Uebergänge
(wie z. B. im Sextett des Don Juan) von einer Wendung der Handlung
zur andern bildet u. ſ. f. Das Orcheſter beginnt die Handlung mit der
Ouvertüre (deren Weglaſſung den Uebelſtand mit ſich führt, daß wir ſo
nicht gleich dieſe zuſammenhaltende, hiemit auch den Totaleindruck erhöhende
Grundlage des Ganzen bekommen), es leitet ſie in belebtem Gange fort
durch alle Wechſel, hebt ſich und ſenkt ſich, vereinfacht und verſtärkt ſich
mit ihr, bezeichnet ihre Höhe und Ruhepuncte, ihre Verwicklungen und ihre
Abwicklung und ſchließt ſie mit Kraft und Beſtimmtheit ab, obwohl es hier
auf eine der Ouvertüre entſprechende reichere Entfaltung ſeiner Mittel ver-
zichten muß, indem ein hintennachkommender Nachhall der ſo reich bewegten
Muſik, mit welcher es die Handlung begleitete, nur matt und ſchwach er-
ſcheinen würde; die dramatiſche Muſik kann nicht enden mit einem lyriſchen
Nachklang, und an dieſem Puncte bleibt daher der ſymmetriſche Bau der
Oper unvollendet, auch dieß einer der Fälle, in welchen die Muſik die
Strenge der Form dem Ausdruck unterordnen muß.

c.
Die Geſchichte der Muſik.
§. 822.

1.

Die Geſchichte der Muſik zeigt eine weit langſamere Entwicklung als die
der übrigen Künſte; die äußeren Momente, daß die Muſik als begleitende Kunſt
ſich ſchwerer zur Selbſtändigkeit entfaltet, und daß das Tonmaterial ohne be-
ſtimmtes Naturvorbild größtentheils erſt zu entdecken und zu geſtalten iſt, ehe
es Mittel eines künſtleriſchen muſikaliſchen Ausdrucks werden kann, wirken mit
der Idealität und Innerlichkeit des Weſens der Muſik ſelbſt zu dieſem Reſultate
2.zuſammen. Das treibende Motiv der Entwicklung iſt auch hier der Gegenſatz
und Streit der beiden Stylprinzipien, des directen und indirecten Idealiſmus,
zu welchem aber noch ein weiteres Moment, der Kampf des abſtract formali-
ſtiſchen Prinzips mit dem des freien Gefühlsausdrucks hinzukommt.

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als bei andern Künſten. Sie tritt zuerſt unſelbſtändig als Verſtärkung der

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[1122/0360] die hiedurch momentan beeinträchtigte Continuität des Fortgangs ſtellt das Orcheſter her, indem es Alles ſtets mit gleich unermüdeter Beweglichkeit begleitet, den Faden ſtets lebendig weiter führt, Pauſen ausfüllt, Uebergänge (wie z. B. im Sextett des Don Juan) von einer Wendung der Handlung zur andern bildet u. ſ. f. Das Orcheſter beginnt die Handlung mit der Ouvertüre (deren Weglaſſung den Uebelſtand mit ſich führt, daß wir ſo nicht gleich dieſe zuſammenhaltende, hiemit auch den Totaleindruck erhöhende Grundlage des Ganzen bekommen), es leitet ſie in belebtem Gange fort durch alle Wechſel, hebt ſich und ſenkt ſich, vereinfacht und verſtärkt ſich mit ihr, bezeichnet ihre Höhe und Ruhepuncte, ihre Verwicklungen und ihre Abwicklung und ſchließt ſie mit Kraft und Beſtimmtheit ab, obwohl es hier auf eine der Ouvertüre entſprechende reichere Entfaltung ſeiner Mittel ver- zichten muß, indem ein hintennachkommender Nachhall der ſo reich bewegten Muſik, mit welcher es die Handlung begleitete, nur matt und ſchwach er- ſcheinen würde; die dramatiſche Muſik kann nicht enden mit einem lyriſchen Nachklang, und an dieſem Puncte bleibt daher der ſymmetriſche Bau der Oper unvollendet, auch dieß einer der Fälle, in welchen die Muſik die Strenge der Form dem Ausdruck unterordnen muß. c. Die Geſchichte der Muſik. §. 822. Die Geſchichte der Muſik zeigt eine weit langſamere Entwicklung als die der übrigen Künſte; die äußeren Momente, daß die Muſik als begleitende Kunſt ſich ſchwerer zur Selbſtändigkeit entfaltet, und daß das Tonmaterial ohne be- ſtimmtes Naturvorbild größtentheils erſt zu entdecken und zu geſtalten iſt, ehe es Mittel eines künſtleriſchen muſikaliſchen Ausdrucks werden kann, wirken mit der Idealität und Innerlichkeit des Weſens der Muſik ſelbſt zu dieſem Reſultate zuſammen. Das treibende Motiv der Entwicklung iſt auch hier der Gegenſatz und Streit der beiden Stylprinzipien, des directen und indirecten Idealiſmus, zu welchem aber noch ein weiteres Moment, der Kampf des abſtract formali- ſtiſchen Prinzips mit dem des freien Gefühlsausdrucks hinzukommt. 1. Die formal techniſchen Schwierigkeiten ſind bei der Muſik größer als bei andern Künſten. Sie tritt zuerſt unſelbſtändig als Verſtärkung der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/360>, abgerufen am 24.11.2024.