lichkeit, intensivere Wirkung auf Gefühl und Gemüth haben; wo kein bestimmter, scharfer Eindruck auf die Empfindung ist, da ist kein Stoff zur Musik; eine solche Nachdrücklichkeit und Eindringlichkeit aber gewinnt die Handlung erst bei concreterer Verwicklung, wie das eigentliche Drama sie darstellt, und daher entsteht auch erst mit diesem die wahrhaft dramatische Musik, das vollkommen dramatische Tonwerk.
2. Die Sätze, welche die zweite Hälfte des §. aufstellt, sind schon in §. 802 (der Wagner'schen Schule gegenüber) sowie in §. 818 vorbereitet, und es ist daher hier blos genauer anzugeben, worin die Anlage der Oper bestehe, vermöge welcher in der Handlung selbst der Gefühlsgehalt so über- wiegt und so überall heraustritt, daß sie selbst nicht einen dürftig trockenen, sondern voll musikalischen, alle Mittel melodischer, harmonischer, rhythmisch- dynamischer Entfaltung verwendenden Ausdruck postulirt. Der Gefühlsge- halt muß 1) überwiegen; denn Lyrik bleibt die Musik immer, da die Tonmalerei, welche objective Ereignisse und Actionen begleitet, immer von untergeordneter Stellung und Bedeutung bleiben muß, auch die Oper ist dramatischlyrisches Gedicht. Damit ist gegeben, daß die Handlung der Oper einfach sein muß, einfach in dem Sinne, daß nicht zu viel Hand- lung, zu viel "Action," d. h. nicht zu viele und zu große Partieen in ihr sind, in welchen gehandelt oder verhandelt wird, in welchen die Personen aus der Sphäre des Gefühls in die breite Sphäre des Verständigpraktischen hinaustreten. Eine Oper, welche zu viel Action und in ihr ihren Schwer- punct hat, müßte manches Unmusikalische musikalisch componiren und würde selbst, wenn dieser Uebelstand vermieden werden könnte, zu einer Breite und Dehnung der musikalischen Composition, die all den umfangreichen Ver- schlingungen und Wendungen der in's Detail sich ausspinnenden Actionen zu folgen hätte, genöthigt werden, bei welcher nichts Anderes als Stoff- überfüllung, Undurchsichtigkeit, Ermüdung herauskäme. Zu viel und zu spezialisirte Handlung absorbirt zudem das Interesse an der Musik; durch Ueberladung mit Handlung wird die Oper allerdings ein Zwitter, ein Compositum aus unverträglichen, nicht zur Einheit zusammenzuschauenden Elementen (S. 829 f.), bei dem man bald die Musik wegwünscht, um die Handlung rein zu haben und sie nicht durch die Musik stets retardirt zu sehen, oft aber auch die Handlung, um der Musik ungestörter folgen zu können. So kann es, um von andern Beispielen zu schweigen, nicht ge- leugnet werden, daß die Oper Figaro in Vergleich mit Don Juan zu viel Handlung und zu viele der musikalischen Composition widerstrebende Partieen von zu undurchsichtiger Verwickeltheit und von zu wenig Gefühlsgehalt hat, namentlich im ersten und letzten Finale, wo die musikalische Recitation oft noch bloße Form ist und hinter der Bewegtheit der Action ganz zurücktritt, während die beiden Finale's in Don Juan nicht nur dramatische, sondern
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lichkeit, intenſivere Wirkung auf Gefühl und Gemüth haben; wo kein beſtimmter, ſcharfer Eindruck auf die Empfindung iſt, da iſt kein Stoff zur Muſik; eine ſolche Nachdrücklichkeit und Eindringlichkeit aber gewinnt die Handlung erſt bei concreterer Verwicklung, wie das eigentliche Drama ſie darſtellt, und daher entſteht auch erſt mit dieſem die wahrhaft dramatiſche Muſik, das vollkommen dramatiſche Tonwerk.
2. Die Sätze, welche die zweite Hälfte des §. aufſtellt, ſind ſchon in §. 802 (der Wagner’ſchen Schule gegenüber) ſowie in §. 818 vorbereitet, und es iſt daher hier blos genauer anzugeben, worin die Anlage der Oper beſtehe, vermöge welcher in der Handlung ſelbſt der Gefühlsgehalt ſo über- wiegt und ſo überall heraustritt, daß ſie ſelbſt nicht einen dürftig trockenen, ſondern voll muſikaliſchen, alle Mittel melodiſcher, harmoniſcher, rhythmiſch- dynamiſcher Entfaltung verwendenden Ausdruck poſtulirt. Der Gefühlsge- halt muß 1) überwiegen; denn Lyrik bleibt die Muſik immer, da die Tonmalerei, welche objective Ereigniſſe und Actionen begleitet, immer von untergeordneter Stellung und Bedeutung bleiben muß, auch die Oper iſt dramatiſchlyriſches Gedicht. Damit iſt gegeben, daß die Handlung der Oper einfach ſein muß, einfach in dem Sinne, daß nicht zu viel Hand- lung, zu viel „Action,“ d. h. nicht zu viele und zu große Partieen in ihr ſind, in welchen gehandelt oder verhandelt wird, in welchen die Perſonen aus der Sphäre des Gefühls in die breite Sphäre des Verſtändigpraktiſchen hinaustreten. Eine Oper, welche zu viel Action und in ihr ihren Schwer- punct hat, müßte manches Unmuſikaliſche muſikaliſch componiren und würde ſelbſt, wenn dieſer Uebelſtand vermieden werden könnte, zu einer Breite und Dehnung der muſikaliſchen Compoſition, die all den umfangreichen Ver- ſchlingungen und Wendungen der in’s Detail ſich ausſpinnenden Actionen zu folgen hätte, genöthigt werden, bei welcher nichts Anderes als Stoff- überfüllung, Undurchſichtigkeit, Ermüdung herauskäme. Zu viel und zu ſpezialiſirte Handlung abſorbirt zudem das Intereſſe an der Muſik; durch Ueberladung mit Handlung wird die Oper allerdings ein Zwitter, ein Compoſitum aus unverträglichen, nicht zur Einheit zuſammenzuſchauenden Elementen (S. 829 f.), bei dem man bald die Muſik wegwünſcht, um die Handlung rein zu haben und ſie nicht durch die Muſik ſtets retardirt zu ſehen, oft aber auch die Handlung, um der Muſik ungeſtörter folgen zu können. So kann es, um von andern Beiſpielen zu ſchweigen, nicht ge- leugnet werden, daß die Oper Figaro in Vergleich mit Don Juan zu viel Handlung und zu viele der muſikaliſchen Compoſition widerſtrebende Partieen von zu undurchſichtiger Verwickeltheit und von zu wenig Gefühlsgehalt hat, namentlich im erſten und letzten Finale, wo die muſikaliſche Recitation oft noch bloße Form iſt und hinter der Bewegtheit der Action ganz zurücktritt, während die beiden Finale’s in Don Juan nicht nur dramatiſche, ſondern
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lichkeit, intenſivere Wirkung auf Gefühl und Gemüth haben; wo kein
beſtimmter, ſcharfer Eindruck auf die Empfindung iſt, da iſt kein Stoff zur
Muſik; eine ſolche Nachdrücklichkeit und Eindringlichkeit aber gewinnt die
Handlung erſt bei concreterer Verwicklung, wie das eigentliche Drama ſie
darſtellt, und daher entſteht auch erſt mit dieſem die wahrhaft dramatiſche
Muſik, das vollkommen dramatiſche Tonwerk.
2. Die Sätze, welche die zweite Hälfte des §. aufſtellt, ſind ſchon in
§. 802 (der Wagner’ſchen Schule gegenüber) ſowie in §. 818 vorbereitet,
und es iſt daher hier blos genauer anzugeben, worin die Anlage der Oper
beſtehe, vermöge welcher in der Handlung ſelbſt der Gefühlsgehalt ſo über-
wiegt und ſo überall heraustritt, daß ſie ſelbſt nicht einen dürftig trockenen,
ſondern voll muſikaliſchen, alle Mittel melodiſcher, harmoniſcher, rhythmiſch-
dynamiſcher Entfaltung verwendenden Ausdruck poſtulirt. Der Gefühlsge-
halt muß 1) überwiegen; denn Lyrik bleibt die Muſik immer, da die
Tonmalerei, welche objective Ereigniſſe und Actionen begleitet, immer von
untergeordneter Stellung und Bedeutung bleiben muß, auch die Oper iſt
dramatiſchlyriſches Gedicht. Damit iſt gegeben, daß die Handlung der
Oper einfach ſein muß, einfach in dem Sinne, daß nicht zu viel Hand-
lung, zu viel „Action,“ d. h. nicht zu viele und zu große Partieen in ihr
ſind, in welchen gehandelt oder verhandelt wird, in welchen die Perſonen
aus der Sphäre des Gefühls in die breite Sphäre des Verſtändigpraktiſchen
hinaustreten. Eine Oper, welche zu viel Action und in ihr ihren Schwer-
punct hat, müßte manches Unmuſikaliſche muſikaliſch componiren und würde
ſelbſt, wenn dieſer Uebelſtand vermieden werden könnte, zu einer Breite und
Dehnung der muſikaliſchen Compoſition, die all den umfangreichen Ver-
ſchlingungen und Wendungen der in’s Detail ſich ausſpinnenden Actionen
zu folgen hätte, genöthigt werden, bei welcher nichts Anderes als Stoff-
überfüllung, Undurchſichtigkeit, Ermüdung herauskäme. Zu viel und zu
ſpezialiſirte Handlung abſorbirt zudem das Intereſſe an der Muſik; durch
Ueberladung mit Handlung wird die Oper allerdings ein Zwitter, ein
Compoſitum aus unverträglichen, nicht zur Einheit zuſammenzuſchauenden
Elementen (S. 829 f.), bei dem man bald die Muſik wegwünſcht, um die
Handlung rein zu haben und ſie nicht durch die Muſik ſtets retardirt zu
ſehen, oft aber auch die Handlung, um der Muſik ungeſtörter folgen zu
können. So kann es, um von andern Beiſpielen zu ſchweigen, nicht ge-
leugnet werden, daß die Oper Figaro in Vergleich mit Don Juan zu viel
Handlung und zu viele der muſikaliſchen Compoſition widerſtrebende Partieen
von zu undurchſichtiger Verwickeltheit und von zu wenig Gefühlsgehalt hat,
namentlich im erſten und letzten Finale, wo die muſikaliſche Recitation oft
noch bloße Form iſt und hinter der Bewegtheit der Action ganz zurücktritt,
während die beiden Finale’s in Don Juan nicht nur dramatiſche, ſondern
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/351>, abgerufen am 25.11.2024.
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