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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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durch das eine seiner Momente Lust, durch das andere Schmerz aus. Nur
in ihrer Verbindung und Gesammtbewegung werden uns jene weitern
Theilungen als der innere Seelen-Apparat erscheinen, in welchem Lust und
Unlust ihr Leben, ihren Verlauf haben. Betrachten wir nun diesen Grund-
gegensatz, worin das Gefühl sich bewegt, die Ebbe und Fluth dieses
Meeres, so zeigt sich derselbe, wie schon zu §. 748 bemerkt ist, als ein
Prozeß, durch welchen die Scheidung von Subject und Object, welche wir
in ihrer eigentlichen Form dem Gefühl abgesprochen haben, doch auch in
diesem dunkeln Element in seiner Art vollzogen wird. Lust und Unlust ist
(wie es Lootze Medizinische Psychologie oder Psychologie der Seele treffend
bezeichnet) ein unbewußtes Vergleichen der Reizung mit der Function
oder Lebensbedingung; das fühlende Subject fragt zwar weder in der Lust
noch in der Unlust nach dem Prozeß und seiner Ursache im Gegenstand,
wodurch es sich dort als wesentlich bejaht und erhöht, hier als verneint
gehemmt vernimmt, es läßt den Faden, der in die Außenwelt führt, fallen,
aber es behält das diesseitige Ende des Fadens, die Wirkung und hält sie
in einem obwohl dunkeln Orte der Rechnungs-Ablegung zusammen mit
der Forderung, welche aus der Summe seiner innersten Lebensbestimmtheit
sich ergibt. In der Unlust ist allerdings dieß Unterscheiden ohne Unter-
scheiden, dieß dunkle und doch so starke Analogon des Bewußtseins und
Selbstbewußtseins bestimmter, denn wo ich mich in meinem innersten Wesen
verneint fühle, wo das Selbst und die Wirkung aus dem Object nicht
harmonisch in Eines fließen, sondern jenes sich dieser erwehrt, da stehe ich
auf der Schwelle zum ausdrücklichen Scheiden, ja es scheint jene dunkle
Vergleichung wirklich über das unbewußte Vernehmen ihres Resultats hin-
aus bis auf das Object selbst gehen, also deutlich werden zu müssen.
Der feindliche Stoß droht das Gefühl aus seiner Bewußtlosigkeit heraus-
zuwerfen. Dennoch muß der Uebergang in eine klar scheidende Geistesform
vorerst entschieden ferne gehalten werden, wenn das Gefühl in seiner Rein-
heit erkannt werden soll. Das Gefühl als solches geht nicht aus sich
heraus, es ist kein Begehren und kein Verabscheuen; wird es zu einem
solchen, so hat es sich mit einer andern Geistesform verbunden, oder,
um weniger äußerlich zu bezeichnen, ist in sie übergegangen und nach dem
Uebergang nicht verschwunden, aber nicht mehr das Ganze des Verhaltens.
Das rein fühlende Selbst wogt nur in sich, im Begehren und Wollen
springt die Woge über den Rand des Gefäßes. Am klarsten wird auch
dieß, wenn man die einzige Sprache des Gefühls, obwohl wir sie nur
erst voraussetzen, die Formenwelt der Musik, zum Belege herbeizieht: in
der Oper wird uns vielfaches Begehren, Verabscheuung, Wollen und
Handeln vergegenwärtigt, aber die Musik an sich, ohne Text und ohne
Schauspiel, drückt nur aus, daß es den Personen in ihrem Innern so und

durch das eine ſeiner Momente Luſt, durch das andere Schmerz aus. Nur
in ihrer Verbindung und Geſammtbewegung werden uns jene weitern
Theilungen als der innere Seelen-Apparat erſcheinen, in welchem Luſt und
Unluſt ihr Leben, ihren Verlauf haben. Betrachten wir nun dieſen Grund-
gegenſatz, worin das Gefühl ſich bewegt, die Ebbe und Fluth dieſes
Meeres, ſo zeigt ſich derſelbe, wie ſchon zu §. 748 bemerkt iſt, als ein
Prozeß, durch welchen die Scheidung von Subject und Object, welche wir
in ihrer eigentlichen Form dem Gefühl abgeſprochen haben, doch auch in
dieſem dunkeln Element in ſeiner Art vollzogen wird. Luſt und Unluſt iſt
(wie es Lootze Mediziniſche Pſychologie oder Pſychologie der Seele treffend
bezeichnet) ein unbewußtes Vergleichen der Reizung mit der Function
oder Lebensbedingung; das fühlende Subject fragt zwar weder in der Luſt
noch in der Unluſt nach dem Prozeß und ſeiner Urſache im Gegenſtand,
wodurch es ſich dort als weſentlich bejaht und erhöht, hier als verneint
gehemmt vernimmt, es läßt den Faden, der in die Außenwelt führt, fallen,
aber es behält das dieſſeitige Ende des Fadens, die Wirkung und hält ſie
in einem obwohl dunkeln Orte der Rechnungs-Ablegung zuſammen mit
der Forderung, welche aus der Summe ſeiner innerſten Lebensbeſtimmtheit
ſich ergibt. In der Unluſt iſt allerdings dieß Unterſcheiden ohne Unter-
ſcheiden, dieß dunkle und doch ſo ſtarke Analogon des Bewußtſeins und
Selbſtbewußtſeins beſtimmter, denn wo ich mich in meinem innerſten Weſen
verneint fühle, wo das Selbſt und die Wirkung aus dem Object nicht
harmoniſch in Eines fließen, ſondern jenes ſich dieſer erwehrt, da ſtehe ich
auf der Schwelle zum ausdrücklichen Scheiden, ja es ſcheint jene dunkle
Vergleichung wirklich über das unbewußte Vernehmen ihres Reſultats hin-
aus bis auf das Object ſelbſt gehen, alſo deutlich werden zu müſſen.
Der feindliche Stoß droht das Gefühl aus ſeiner Bewußtloſigkeit heraus-
zuwerfen. Dennoch muß der Uebergang in eine klar ſcheidende Geiſtesform
vorerſt entſchieden ferne gehalten werden, wenn das Gefühl in ſeiner Rein-
heit erkannt werden ſoll. Das Gefühl als ſolches geht nicht aus ſich
heraus, es iſt kein Begehren und kein Verabſcheuen; wird es zu einem
ſolchen, ſo hat es ſich mit einer andern Geiſtesform verbunden, oder,
um weniger äußerlich zu bezeichnen, iſt in ſie übergegangen und nach dem
Uebergang nicht verſchwunden, aber nicht mehr das Ganze des Verhaltens.
Das rein fühlende Selbſt wogt nur in ſich, im Begehren und Wollen
ſpringt die Woge über den Rand des Gefäßes. Am klarſten wird auch
dieß, wenn man die einzige Sprache des Gefühls, obwohl wir ſie nur
erſt vorausſetzen, die Formenwelt der Muſik, zum Belege herbeizieht: in
der Oper wird uns vielfaches Begehren, Verabſcheuung, Wollen und
Handeln vergegenwärtigt, aber die Muſik an ſich, ohne Text und ohne
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[796/0034] durch das eine ſeiner Momente Luſt, durch das andere Schmerz aus. Nur in ihrer Verbindung und Geſammtbewegung werden uns jene weitern Theilungen als der innere Seelen-Apparat erſcheinen, in welchem Luſt und Unluſt ihr Leben, ihren Verlauf haben. Betrachten wir nun dieſen Grund- gegenſatz, worin das Gefühl ſich bewegt, die Ebbe und Fluth dieſes Meeres, ſo zeigt ſich derſelbe, wie ſchon zu §. 748 bemerkt iſt, als ein Prozeß, durch welchen die Scheidung von Subject und Object, welche wir in ihrer eigentlichen Form dem Gefühl abgeſprochen haben, doch auch in dieſem dunkeln Element in ſeiner Art vollzogen wird. Luſt und Unluſt iſt (wie es Lootze Mediziniſche Pſychologie oder Pſychologie der Seele treffend bezeichnet) ein unbewußtes Vergleichen der Reizung mit der Function oder Lebensbedingung; das fühlende Subject fragt zwar weder in der Luſt noch in der Unluſt nach dem Prozeß und ſeiner Urſache im Gegenſtand, wodurch es ſich dort als weſentlich bejaht und erhöht, hier als verneint gehemmt vernimmt, es läßt den Faden, der in die Außenwelt führt, fallen, aber es behält das dieſſeitige Ende des Fadens, die Wirkung und hält ſie in einem obwohl dunkeln Orte der Rechnungs-Ablegung zuſammen mit der Forderung, welche aus der Summe ſeiner innerſten Lebensbeſtimmtheit ſich ergibt. In der Unluſt iſt allerdings dieß Unterſcheiden ohne Unter- ſcheiden, dieß dunkle und doch ſo ſtarke Analogon des Bewußtſeins und Selbſtbewußtſeins beſtimmter, denn wo ich mich in meinem innerſten Weſen verneint fühle, wo das Selbſt und die Wirkung aus dem Object nicht harmoniſch in Eines fließen, ſondern jenes ſich dieſer erwehrt, da ſtehe ich auf der Schwelle zum ausdrücklichen Scheiden, ja es ſcheint jene dunkle Vergleichung wirklich über das unbewußte Vernehmen ihres Reſultats hin- aus bis auf das Object ſelbſt gehen, alſo deutlich werden zu müſſen. Der feindliche Stoß droht das Gefühl aus ſeiner Bewußtloſigkeit heraus- zuwerfen. Dennoch muß der Uebergang in eine klar ſcheidende Geiſtesform vorerſt entſchieden ferne gehalten werden, wenn das Gefühl in ſeiner Rein- heit erkannt werden ſoll. Das Gefühl als ſolches geht nicht aus ſich heraus, es iſt kein Begehren und kein Verabſcheuen; wird es zu einem ſolchen, ſo hat es ſich mit einer andern Geiſtesform verbunden, oder, um weniger äußerlich zu bezeichnen, iſt in ſie übergegangen und nach dem Uebergang nicht verſchwunden, aber nicht mehr das Ganze des Verhaltens. Das rein fühlende Selbſt wogt nur in ſich, im Begehren und Wollen ſpringt die Woge über den Rand des Gefäßes. Am klarſten wird auch dieß, wenn man die einzige Sprache des Gefühls, obwohl wir ſie nur erſt vorausſetzen, die Formenwelt der Muſik, zum Belege herbeizieht: in der Oper wird uns vielfaches Begehren, Verabſcheuung, Wollen und Handeln vergegenwärtigt, aber die Muſik an ſich, ohne Text und ohne Schauſpiel, drückt nur aus, daß es den Perſonen in ihrem Innern ſo und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 796. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/34>, abgerufen am 27.04.2024.