fortschreitet, sobald sie die durch äußere Zwecke bestimmten kleinern Stim- mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. s. f.) verläßt und sich selbständig auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigst contrastirenden, die verschie- densten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonstücks; es ist z. B. ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng fand und dadurch zu Ausschreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung getrieben wurde; die reine Instrumentalmusik muß sich expandiren, so weit die Gedankeneinheit der Composition es nur irgend gestattet, sie muß hinaus über das geschlossene plastische Bild zum breit sich hinlagernden, gestalten- vollen, lyrischen, epischen, dramatischen Gemälde (§. 697), damit erst ge- winnt sie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.
1. Der ein- und mehrstimmige Solosatz kann rücksichtlich des Umfangs auf die engen Grenzen des "Stücks" (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton- stücks sich beschränken; das Violinsolo, das Duett, Trio u. s. w. kann möglicherweise nur aus Einem Satze bestehen. Indeß kommt hiemit schon der Wechsel und Contrast mannigfaltigerer rhythmischer Bewegung, welcher namentlich das ganz frei sich bewegende Einzelinstrument fähig ist, nicht zu seinem Rechte, und der monodische Solosatz drängt daher von selbst zu zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; dasselbe ist der Fall beim mehr- stimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die Combinirung mehrerer Instrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes nicht zu erschöpfen ist. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der Solosatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechsel und Contrast von "Erregungs- und Stimmungsmusik", der in dem größern und doch für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei, vier, selten mehr Sätzen zur Erscheinung kommt, oder (s. ebd.) er erreicht ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, sondern den Wechsel und Gegensatz von Empfindungen sich zum Gegenstande nimmt, der die Grund- form des Gefühlslebens ist, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-, sondern Lebensbild wird, wie schon die Ouvertüre nichts mehr mit der Einzelempfindung zu thun hatte, sondern bereits ein Stück Leben, ein histo- risches Gemälde war. Eine ruhige, aber spannende, besonders durch reichere Harmonie, künstliche Stimmführung den Hörer voll fassende und fesselnde Einleitung kann, wenn das Tonstück an sich oder durch größeren Umfang gewichtigerer Art ist, vorhergehen; dann folgt als erster Hauptabschnitt ein erregter Satz, der das Gemüth und die Phantasie mit Entschiedenheit mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe- renz gebrachten, gehobenen, sich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-
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fortſchreitet, ſobald ſie die durch äußere Zwecke beſtimmten kleinern Stim- mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. ſ. f.) verläßt und ſich ſelbſtändig auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigſt contraſtirenden, die verſchie- denſten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonſtücks; es iſt z. B. ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng fand und dadurch zu Ausſchreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung getrieben wurde; die reine Inſtrumentalmuſik muß ſich expandiren, ſo weit die Gedankeneinheit der Compoſition es nur irgend geſtattet, ſie muß hinaus über das geſchloſſene plaſtiſche Bild zum breit ſich hinlagernden, geſtalten- vollen, lyriſchen, epiſchen, dramatiſchen Gemälde (§. 697), damit erſt ge- winnt ſie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.
1. Der ein- und mehrſtimmige Soloſatz kann rückſichtlich des Umfangs auf die engen Grenzen des „Stücks“ (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton- ſtücks ſich beſchränken; das Violinſolo, das Duett, Trio u. ſ. w. kann möglicherweiſe nur aus Einem Satze beſtehen. Indeß kommt hiemit ſchon der Wechſel und Contraſt mannigfaltigerer rhythmiſcher Bewegung, welcher namentlich das ganz frei ſich bewegende Einzelinſtrument fähig iſt, nicht zu ſeinem Rechte, und der monodiſche Soloſatz drängt daher von ſelbſt zu zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; daſſelbe iſt der Fall beim mehr- ſtimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die Combinirung mehrerer Inſtrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes nicht zu erſchöpfen iſt. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der Soloſatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechſel und Contraſt von „Erregungs- und Stimmungsmuſik“, der in dem größern und doch für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei, vier, ſelten mehr Sätzen zur Erſcheinung kommt, oder (ſ. ebd.) er erreicht ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, ſondern den Wechſel und Gegenſatz von Empfindungen ſich zum Gegenſtande nimmt, der die Grund- form des Gefühlslebens iſt, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-, ſondern Lebensbild wird, wie ſchon die Ouvertüre nichts mehr mit der Einzelempfindung zu thun hatte, ſondern bereits ein Stück Leben, ein hiſto- riſches Gemälde war. Eine ruhige, aber ſpannende, beſonders durch reichere Harmonie, künſtliche Stimmführung den Hörer voll faſſende und feſſelnde Einleitung kann, wenn das Tonſtück an ſich oder durch größeren Umfang gewichtigerer Art iſt, vorhergehen; dann folgt als erſter Hauptabſchnitt ein erregter Satz, der das Gemüth und die Phantaſie mit Entſchiedenheit mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe- renz gebrachten, gehobenen, ſich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-
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fortſchreitet, ſobald ſie die durch äußere Zwecke beſtimmten kleinern Stim-
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auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und
Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigſt contraſtirenden, die verſchie-
denſten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden
Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen
Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonſtücks; es iſt z. B.
ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng
fand und dadurch zu Ausſchreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung
getrieben wurde; die reine Inſtrumentalmuſik muß ſich expandiren, ſo weit
die Gedankeneinheit der Compoſition es nur irgend geſtattet, ſie muß hinaus
über das geſchloſſene plaſtiſche Bild zum breit ſich hinlagernden, geſtalten-
vollen, lyriſchen, epiſchen, dramatiſchen Gemälde (§. 697), damit erſt ge-
winnt ſie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.
1. Der ein- und mehrſtimmige Soloſatz kann rückſichtlich des Umfangs
auf die engen Grenzen des „Stücks“ (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton-
ſtücks ſich beſchränken; das Violinſolo, das Duett, Trio u. ſ. w. kann
möglicherweiſe nur aus Einem Satze beſtehen. Indeß kommt hiemit ſchon
der Wechſel und Contraſt mannigfaltigerer rhythmiſcher Bewegung, welcher
namentlich das ganz frei ſich bewegende Einzelinſtrument fähig iſt, nicht zu
ſeinem Rechte, und der monodiſche Soloſatz drängt daher von ſelbſt zu
zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; daſſelbe iſt der Fall beim mehr-
ſtimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die
Combinirung mehrerer Inſtrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes
nicht zu erſchöpfen iſt. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der
Soloſatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechſel und Contraſt
von „Erregungs- und Stimmungsmuſik“, der in dem größern und doch
für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei,
vier, ſelten mehr Sätzen zur Erſcheinung kommt, oder (ſ. ebd.) er erreicht
ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, ſondern den Wechſel und
Gegenſatz von Empfindungen ſich zum Gegenſtande nimmt, der die Grund-
form des Gefühlslebens iſt, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-,
ſondern Lebensbild wird, wie ſchon die Ouvertüre nichts mehr mit der
Einzelempfindung zu thun hatte, ſondern bereits ein Stück Leben, ein hiſto-
riſches Gemälde war. Eine ruhige, aber ſpannende, beſonders durch reichere
Harmonie, künſtliche Stimmführung den Hörer voll faſſende und feſſelnde
Einleitung kann, wenn das Tonſtück an ſich oder durch größeren Umfang
gewichtigerer Art iſt, vorhergehen; dann folgt als erſter Hauptabſchnitt ein
erregter Satz, der das Gemüth und die Phantaſie mit Entſchiedenheit
mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe-
renz gebrachten, gehobenen, ſich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1081. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/319>, abgerufen am 22.11.2024.
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