Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

fortschreitet, sobald sie die durch äußere Zwecke bestimmten kleinern Stim-
mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. s. f.) verläßt und sich selbständig
auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und
Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigst contrastirenden, die verschie-
densten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden
Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen
Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonstücks; es ist z. B.
ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng
fand und dadurch zu Ausschreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung
getrieben wurde; die reine Instrumentalmusik muß sich expandiren, so weit
die Gedankeneinheit der Composition es nur irgend gestattet, sie muß hinaus
über das geschlossene plastische Bild zum breit sich hinlagernden, gestalten-
vollen, lyrischen, epischen, dramatischen Gemälde (§. 697), damit erst ge-
winnt sie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.

1. Der ein- und mehrstimmige Solosatz kann rücksichtlich des Umfangs
auf die engen Grenzen des "Stücks" (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton-
stücks sich beschränken; das Violinsolo, das Duett, Trio u. s. w. kann
möglicherweise nur aus Einem Satze bestehen. Indeß kommt hiemit schon
der Wechsel und Contrast mannigfaltigerer rhythmischer Bewegung, welcher
namentlich das ganz frei sich bewegende Einzelinstrument fähig ist, nicht zu
seinem Rechte, und der monodische Solosatz drängt daher von selbst zu
zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; dasselbe ist der Fall beim mehr-
stimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die
Combinirung mehrerer Instrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes
nicht zu erschöpfen ist. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der
Solosatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechsel und Contrast
von "Erregungs- und Stimmungsmusik", der in dem größern und doch
für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei,
vier, selten mehr Sätzen zur Erscheinung kommt, oder (s. ebd.) er erreicht
ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, sondern den Wechsel und
Gegensatz von Empfindungen sich zum Gegenstande nimmt, der die Grund-
form des Gefühlslebens ist, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-,
sondern Lebensbild wird, wie schon die Ouvertüre nichts mehr mit der
Einzelempfindung zu thun hatte, sondern bereits ein Stück Leben, ein histo-
risches Gemälde war. Eine ruhige, aber spannende, besonders durch reichere
Harmonie, künstliche Stimmführung den Hörer voll fassende und fesselnde
Einleitung kann, wenn das Tonstück an sich oder durch größeren Umfang
gewichtigerer Art ist, vorhergehen; dann folgt als erster Hauptabschnitt ein
erregter Satz
, der das Gemüth und die Phantasie mit Entschiedenheit
mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe-
renz gebrachten, gehobenen, sich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-

70*

fortſchreitet, ſobald ſie die durch äußere Zwecke beſtimmten kleinern Stim-
mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. ſ. f.) verläßt und ſich ſelbſtändig
auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und
Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigſt contraſtirenden, die verſchie-
denſten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden
Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen
Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonſtücks; es iſt z. B.
ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng
fand und dadurch zu Ausſchreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung
getrieben wurde; die reine Inſtrumentalmuſik muß ſich expandiren, ſo weit
die Gedankeneinheit der Compoſition es nur irgend geſtattet, ſie muß hinaus
über das geſchloſſene plaſtiſche Bild zum breit ſich hinlagernden, geſtalten-
vollen, lyriſchen, epiſchen, dramatiſchen Gemälde (§. 697), damit erſt ge-
winnt ſie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.

1. Der ein- und mehrſtimmige Soloſatz kann rückſichtlich des Umfangs
auf die engen Grenzen des „Stücks“ (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton-
ſtücks ſich beſchränken; das Violinſolo, das Duett, Trio u. ſ. w. kann
möglicherweiſe nur aus Einem Satze beſtehen. Indeß kommt hiemit ſchon
der Wechſel und Contraſt mannigfaltigerer rhythmiſcher Bewegung, welcher
namentlich das ganz frei ſich bewegende Einzelinſtrument fähig iſt, nicht zu
ſeinem Rechte, und der monodiſche Soloſatz drängt daher von ſelbſt zu
zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; daſſelbe iſt der Fall beim mehr-
ſtimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die
Combinirung mehrerer Inſtrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes
nicht zu erſchöpfen iſt. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der
Soloſatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechſel und Contraſt
von „Erregungs- und Stimmungsmuſik“, der in dem größern und doch
für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei,
vier, ſelten mehr Sätzen zur Erſcheinung kommt, oder (ſ. ebd.) er erreicht
ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, ſondern den Wechſel und
Gegenſatz von Empfindungen ſich zum Gegenſtande nimmt, der die Grund-
form des Gefühlslebens iſt, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-,
ſondern Lebensbild wird, wie ſchon die Ouvertüre nichts mehr mit der
Einzelempfindung zu thun hatte, ſondern bereits ein Stück Leben, ein hiſto-
riſches Gemälde war. Eine ruhige, aber ſpannende, beſonders durch reichere
Harmonie, künſtliche Stimmführung den Hörer voll faſſende und feſſelnde
Einleitung kann, wenn das Tonſtück an ſich oder durch größeren Umfang
gewichtigerer Art iſt, vorhergehen; dann folgt als erſter Hauptabſchnitt ein
erregter Satz
, der das Gemüth und die Phantaſie mit Entſchiedenheit
mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe-
renz gebrachten, gehobenen, ſich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-

70*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0319" n="1081"/>
fort&#x017F;chreitet, &#x017F;obald &#x017F;ie die durch äußere Zwecke be&#x017F;timmten kleinern Stim-<lb/>
mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. &#x017F;. f.) verläßt und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;tändig<lb/>
auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und<lb/>
Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltig&#x017F;t contra&#x017F;tirenden, die ver&#x017F;chie-<lb/>
den&#x017F;ten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden<lb/>
Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen<lb/>
Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Ton&#x017F;tücks; es i&#x017F;t z. B.<lb/>
ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng<lb/>
fand und dadurch zu Aus&#x017F;chreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung<lb/>
getrieben wurde; die reine In&#x017F;trumentalmu&#x017F;ik muß &#x017F;ich expandiren, &#x017F;o weit<lb/>
die Gedankeneinheit der Compo&#x017F;ition es nur irgend ge&#x017F;tattet, &#x017F;ie muß hinaus<lb/>
über das ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene pla&#x017F;ti&#x017F;che Bild zum breit &#x017F;ich hinlagernden, ge&#x017F;talten-<lb/>
vollen, lyri&#x017F;chen, epi&#x017F;chen, dramati&#x017F;chen Gemälde (§. 697), damit er&#x017F;t ge-<lb/>
winnt &#x017F;ie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Der ein- und mehr&#x017F;timmige Solo&#x017F;atz kann rück&#x017F;ichtlich des Umfangs<lb/>
auf die engen Grenzen des &#x201E;Stücks&#x201C; (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton-<lb/>
&#x017F;tücks &#x017F;ich be&#x017F;chränken; das Violin&#x017F;olo, das Duett, Trio u. &#x017F;. w. kann<lb/>
möglicherwei&#x017F;e nur aus Einem Satze be&#x017F;tehen. Indeß kommt hiemit &#x017F;chon<lb/>
der Wech&#x017F;el und Contra&#x017F;t mannigfaltigerer rhythmi&#x017F;cher Bewegung, welcher<lb/>
namentlich das ganz frei &#x017F;ich bewegende Einzelin&#x017F;trument fähig i&#x017F;t, nicht zu<lb/>
&#x017F;einem Rechte, und der monodi&#x017F;che Solo&#x017F;atz drängt daher von &#x017F;elb&#x017F;t zu<lb/>
zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; da&#x017F;&#x017F;elbe i&#x017F;t der Fall beim mehr-<lb/>
&#x017F;timmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die<lb/>
Combinirung mehrerer In&#x017F;trumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes<lb/>
nicht zu er&#x017F;chöpfen i&#x017F;t. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der<lb/>
Solo&#x017F;atz durch den in §. 791 bereits begründeten Wech&#x017F;el und Contra&#x017F;t<lb/>
von &#x201E;Erregungs- und Stimmungsmu&#x017F;ik&#x201C;, der in dem größern und doch<lb/>
für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei,<lb/>
vier, &#x017F;elten mehr Sätzen zur Er&#x017F;cheinung kommt, oder (&#x017F;. ebd.) er erreicht<lb/>
ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, &#x017F;ondern den Wech&#x017F;el und<lb/>
Gegen&#x017F;atz von Empfindungen &#x017F;ich zum Gegen&#x017F;tande nimmt, der die Grund-<lb/>
form des Gefühlslebens i&#x017F;t, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-,<lb/>
&#x017F;ondern <hi rendition="#g">Lebensbild</hi> wird, wie &#x017F;chon die Ouvertüre nichts mehr mit der<lb/>
Einzelempfindung zu thun hatte, &#x017F;ondern bereits ein Stück Leben, ein hi&#x017F;to-<lb/>
ri&#x017F;ches Gemälde war. Eine ruhige, aber &#x017F;pannende, be&#x017F;onders durch reichere<lb/>
Harmonie, kün&#x017F;tliche Stimmführung den Hörer voll fa&#x017F;&#x017F;ende und fe&#x017F;&#x017F;elnde<lb/>
Einleitung kann, wenn das Ton&#x017F;tück an &#x017F;ich oder durch größeren Umfang<lb/>
gewichtigerer Art i&#x017F;t, vorhergehen; dann folgt als er&#x017F;ter Hauptab&#x017F;chnitt <hi rendition="#g">ein<lb/>
erregter Satz</hi>, der das Gemüth und die Phanta&#x017F;ie mit Ent&#x017F;chiedenheit<lb/>
mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe-<lb/>
renz gebrachten, gehobenen, &#x017F;ich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-</hi><lb/>
                <fw place="bottom" type="sig">70*</fw><lb/>
              </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1081/0319] fortſchreitet, ſobald ſie die durch äußere Zwecke beſtimmten kleinern Stim- mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. ſ. f.) verläßt und ſich ſelbſtändig auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigſt contraſtirenden, die verſchie- denſten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonſtücks; es iſt z. B. ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng fand und dadurch zu Ausſchreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung getrieben wurde; die reine Inſtrumentalmuſik muß ſich expandiren, ſo weit die Gedankeneinheit der Compoſition es nur irgend geſtattet, ſie muß hinaus über das geſchloſſene plaſtiſche Bild zum breit ſich hinlagernden, geſtalten- vollen, lyriſchen, epiſchen, dramatiſchen Gemälde (§. 697), damit erſt ge- winnt ſie Leben, Freiheit, Unendlichkeit. 1. Der ein- und mehrſtimmige Soloſatz kann rückſichtlich des Umfangs auf die engen Grenzen des „Stücks“ (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton- ſtücks ſich beſchränken; das Violinſolo, das Duett, Trio u. ſ. w. kann möglicherweiſe nur aus Einem Satze beſtehen. Indeß kommt hiemit ſchon der Wechſel und Contraſt mannigfaltigerer rhythmiſcher Bewegung, welcher namentlich das ganz frei ſich bewegende Einzelinſtrument fähig iſt, nicht zu ſeinem Rechte, und der monodiſche Soloſatz drängt daher von ſelbſt zu zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; daſſelbe iſt der Fall beim mehr- ſtimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die Combinirung mehrerer Inſtrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes nicht zu erſchöpfen iſt. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der Soloſatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechſel und Contraſt von „Erregungs- und Stimmungsmuſik“, der in dem größern und doch für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei, vier, ſelten mehr Sätzen zur Erſcheinung kommt, oder (ſ. ebd.) er erreicht ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, ſondern den Wechſel und Gegenſatz von Empfindungen ſich zum Gegenſtande nimmt, der die Grund- form des Gefühlslebens iſt, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-, ſondern Lebensbild wird, wie ſchon die Ouvertüre nichts mehr mit der Einzelempfindung zu thun hatte, ſondern bereits ein Stück Leben, ein hiſto- riſches Gemälde war. Eine ruhige, aber ſpannende, beſonders durch reichere Harmonie, künſtliche Stimmführung den Hörer voll faſſende und feſſelnde Einleitung kann, wenn das Tonſtück an ſich oder durch größeren Umfang gewichtigerer Art iſt, vorhergehen; dann folgt als erſter Hauptabſchnitt ein erregter Satz, der das Gemüth und die Phantaſie mit Entſchiedenheit mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe- renz gebrachten, gehobenen, ſich kräftig regenden oder auch in Kampf ver- 70*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/319
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1081. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/319>, abgerufen am 22.11.2024.