die Bedeutsamkeit, die Lebendigkeit der Handlung mit allen Tonmitteln ab- bilden, und namentlich Eines soll ihr nicht fehlen, die Verwicklung, Steigerung der Bewegung; wie die Handlung von einfachen Anfängen aus sich erweitert, größere Dimensionen annimmt, verwickelter, schwieriger wird, so ist auch die Ouvertüre nur dann vollkommen dramatisch, wenn sie dieß abbildet durch allmälige Erweiterung, Verstärkung, Spannung, Verdichtung der Ton- bewegung, die sich aber ebenso auch wieder auseinander wickelt und auflöst, wie die Handlung; dieser steigende und fallende Rhythmus ist eine Haupt- zierde der Ouvertüre, durch ihn ist sie ächt musikalisch, obwohl natürlich nicht für alle Ouvertüren, z. B. zu leichtern Opern, gefordert werden kann, daß diese Verwicklung gleich stark hervortrete. Dieser Steigerung der Be- wegung dient in der Ouvertüre vor Allem der kunstreichere, vollstimmigere, die Stimmen kräftiger und rascher gegen einander führende, sie auch geradezu polyphonisch verflechtende "Mittelsatz" (S. 950); hier, wo Alles enger zu- sammenrückt, sich in einander wirrt, sich jagt und verfolgt, hier stehen wir mitten in der bewegtesten Handlung, hier ragt das Drama selbst am an- schaulichsten in die Ouvertüre herein, hier werden wir es am bestimmtesten inne, daß wir im Begriff sind einer Handlung zuzuschauen und ihr in alle ihre Verschlingungen zu folgen. Aufbau des Ganzen aus einem oder wenigen Motiven (fugirte oder streng thematische Arbeit S. 961) ist für die drama- tische Ouvertüre in der Regel nicht Gesetz; selbst die fugirte Ouvertüre muß sich freier bewegen und zu eigenen Nebensätzen fortschreiten, wenn sie ein Bild der aus den Actionen mehrerer und mannigfach verschiedener Indivi- dualitäten sich zusammensetzenden Handlung sein will; die normale Form ist die Gliederung in Hauptabschnitte, deren jeder einem Hauptstimmungsmotiv des Drama's entspricht, damit die verschiedenen treibenden Elemente desselben nach und neben einander in der Ouvertüre sich abspiegeln. Diese Abschnitte im Einzelnen selbst wieder reich zu gliedern, sie an einander in der Art anzureihen, daß sowohl das allmälige Wachsen der Handlung in die Breite, die Erweiterung ihres Umfangs durch Hinzutreten neuer Momente, als ihre innerliche Zunahme an Intensität und Verwickeltheit lebendig veranschaulicht, nach Umständen auch ihr endlicher Verlauf angedeutet werde und so die ganze Ouvertüre der Mannigfaltigkeit ihrer Sätze ungeachtet ein organisch fort- schreitendes Ganzes sei, ist die Aufgabe der Composition, über deren Lösung die Theorie etwas Spezielleres nicht bestimmen kann, außer etwa dieß, daß die Ent- und Verwicklung, nicht aber der Schlußverlauf die Hauptsache ist, nicht nur weil die erstere am besten den Stoff zu einem lebendig bewegten Tonbild liefert, sondern auch deßwegen, weil eine zu bestimmte Schilderung des Schlusses, wie z. B. im letzten Satz der Egmontouvertüre (der doch richtiger erst am Ende des ganzen Drama's gehört wird), in zu großem Abstande sich befindet zu der mit dem Aufgehen des Vorhangs beginnenden,
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 70
die Bedeutſamkeit, die Lebendigkeit der Handlung mit allen Tonmitteln ab- bilden, und namentlich Eines ſoll ihr nicht fehlen, die Verwicklung, Steigerung der Bewegung; wie die Handlung von einfachen Anfängen aus ſich erweitert, größere Dimenſionen annimmt, verwickelter, ſchwieriger wird, ſo iſt auch die Ouvertüre nur dann vollkommen dramatiſch, wenn ſie dieß abbildet durch allmälige Erweiterung, Verſtärkung, Spannung, Verdichtung der Ton- bewegung, die ſich aber ebenſo auch wieder auseinander wickelt und auflöst, wie die Handlung; dieſer ſteigende und fallende Rhythmus iſt eine Haupt- zierde der Ouvertüre, durch ihn iſt ſie ächt muſikaliſch, obwohl natürlich nicht für alle Ouvertüren, z. B. zu leichtern Opern, gefordert werden kann, daß dieſe Verwicklung gleich ſtark hervortrete. Dieſer Steigerung der Be- wegung dient in der Ouvertüre vor Allem der kunſtreichere, vollſtimmigere, die Stimmen kräftiger und raſcher gegen einander führende, ſie auch geradezu polyphoniſch verflechtende „Mittelſatz“ (S. 950); hier, wo Alles enger zu- ſammenrückt, ſich in einander wirrt, ſich jagt und verfolgt, hier ſtehen wir mitten in der bewegteſten Handlung, hier ragt das Drama ſelbſt am an- ſchaulichſten in die Ouvertüre herein, hier werden wir es am beſtimmteſten inne, daß wir im Begriff ſind einer Handlung zuzuſchauen und ihr in alle ihre Verſchlingungen zu folgen. Aufbau des Ganzen aus einem oder wenigen Motiven (fugirte oder ſtreng thematiſche Arbeit S. 961) iſt für die drama- tiſche Ouvertüre in der Regel nicht Geſetz; ſelbſt die fugirte Ouvertüre muß ſich freier bewegen und zu eigenen Nebenſätzen fortſchreiten, wenn ſie ein Bild der aus den Actionen mehrerer und mannigfach verſchiedener Indivi- dualitäten ſich zuſammenſetzenden Handlung ſein will; die normale Form iſt die Gliederung in Hauptabſchnitte, deren jeder einem Hauptſtimmungsmotiv des Drama’s entſpricht, damit die verſchiedenen treibenden Elemente deſſelben nach und neben einander in der Ouvertüre ſich abſpiegeln. Dieſe Abſchnitte im Einzelnen ſelbſt wieder reich zu gliedern, ſie an einander in der Art anzureihen, daß ſowohl das allmälige Wachſen der Handlung in die Breite, die Erweiterung ihres Umfangs durch Hinzutreten neuer Momente, als ihre innerliche Zunahme an Intenſität und Verwickeltheit lebendig veranſchaulicht, nach Umſtänden auch ihr endlicher Verlauf angedeutet werde und ſo die ganze Ouvertüre der Mannigfaltigkeit ihrer Sätze ungeachtet ein organiſch fort- ſchreitendes Ganzes ſei, iſt die Aufgabe der Compoſition, über deren Löſung die Theorie etwas Spezielleres nicht beſtimmen kann, außer etwa dieß, daß die Ent- und Verwicklung, nicht aber der Schlußverlauf die Hauptſache iſt, nicht nur weil die erſtere am beſten den Stoff zu einem lebendig bewegten Tonbild liefert, ſondern auch deßwegen, weil eine zu beſtimmte Schilderung des Schluſſes, wie z. B. im letzten Satz der Egmontouvertüre (der doch richtiger erſt am Ende des ganzen Drama’s gehört wird), in zu großem Abſtande ſich befindet zu der mit dem Aufgehen des Vorhangs beginnenden,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 70
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die Bedeutſamkeit, die Lebendigkeit der Handlung mit allen Tonmitteln ab-
bilden, und namentlich Eines ſoll ihr nicht fehlen, die Verwicklung, Steigerung
der Bewegung; wie die Handlung von einfachen Anfängen aus ſich erweitert,
größere Dimenſionen annimmt, verwickelter, ſchwieriger wird, ſo iſt auch die
Ouvertüre nur dann vollkommen dramatiſch, wenn ſie dieß abbildet durch
allmälige Erweiterung, Verſtärkung, Spannung, Verdichtung der Ton-
bewegung, die ſich aber ebenſo auch wieder auseinander wickelt und auflöst,
wie die Handlung; dieſer ſteigende und fallende Rhythmus iſt eine Haupt-
zierde der Ouvertüre, durch ihn iſt ſie ächt muſikaliſch, obwohl natürlich
nicht für alle Ouvertüren, z. B. zu leichtern Opern, gefordert werden kann,
daß dieſe Verwicklung gleich ſtark hervortrete. Dieſer Steigerung der Be-
wegung dient in der Ouvertüre vor Allem der kunſtreichere, vollſtimmigere,
die Stimmen kräftiger und raſcher gegen einander führende, ſie auch geradezu
polyphoniſch verflechtende „Mittelſatz“ (S. 950); hier, wo Alles enger zu-
ſammenrückt, ſich in einander wirrt, ſich jagt und verfolgt, hier ſtehen wir
mitten in der bewegteſten Handlung, hier ragt das Drama ſelbſt am an-
ſchaulichſten in die Ouvertüre herein, hier werden wir es am beſtimmteſten
inne, daß wir im Begriff ſind einer Handlung zuzuſchauen und ihr in alle
ihre Verſchlingungen zu folgen. Aufbau des Ganzen aus einem oder wenigen
Motiven (fugirte oder ſtreng thematiſche Arbeit S. 961) iſt für die drama-
tiſche Ouvertüre in der Regel nicht Geſetz; ſelbſt die fugirte Ouvertüre muß
ſich freier bewegen und zu eigenen Nebenſätzen fortſchreiten, wenn ſie ein
Bild der aus den Actionen mehrerer und mannigfach verſchiedener Indivi-
dualitäten ſich zuſammenſetzenden Handlung ſein will; die normale Form iſt
die Gliederung in Hauptabſchnitte, deren jeder einem Hauptſtimmungsmotiv
des Drama’s entſpricht, damit die verſchiedenen treibenden Elemente deſſelben
nach und neben einander in der Ouvertüre ſich abſpiegeln. Dieſe Abſchnitte
im Einzelnen ſelbſt wieder reich zu gliedern, ſie an einander in der Art
anzureihen, daß ſowohl das allmälige Wachſen der Handlung in die Breite,
die Erweiterung ihres Umfangs durch Hinzutreten neuer Momente, als ihre
innerliche Zunahme an Intenſität und Verwickeltheit lebendig veranſchaulicht,
nach Umſtänden auch ihr endlicher Verlauf angedeutet werde und ſo die ganze
Ouvertüre der Mannigfaltigkeit ihrer Sätze ungeachtet ein organiſch fort-
ſchreitendes Ganzes ſei, iſt die Aufgabe der Compoſition, über deren Löſung
die Theorie etwas Spezielleres nicht beſtimmen kann, außer etwa dieß, daß
die Ent- und Verwicklung, nicht aber der Schlußverlauf die Hauptſache iſt,
nicht nur weil die erſtere am beſten den Stoff zu einem lebendig bewegten
Tonbild liefert, ſondern auch deßwegen, weil eine zu beſtimmte Schilderung
des Schluſſes, wie z. B. im letzten Satz der Egmontouvertüre (der doch
richtiger erſt am Ende des ganzen Drama’s gehört wird), in zu großem
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1079. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/317>, abgerufen am 22.11.2024.
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