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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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den Personen zu malen, dann im letzten weich melodischen Satz des ersten
Theils die behaglich vergnügte Stimmung, die das Endresultat sein wird,
kurz anzudeuten, endlich aber, nachdem dieß Alles wiederholt ist, in der
pianissimo beginnenden, immer stärker und belebter werdenden Schlußpartie,
wo Alles sich jagt und überholt, den unendlichen Jubel, in den schließlich
Alles ausgeht und der auch jene sanftern melodischen Klänge übertäubt,
darstellen zu wollen scheint. Etwas anders ist es in der Ouvertüre zu Don
Juan; sie stellt das Wichtigste, den niederschmetternden, schmerzlich bange-
machenden Ernst höherer Schicksalsgewalt, der in's Leben hereintritt und es
entzweischneidet, zwar dramatisch, aber doch zugleich mit der Wirkung voran,
daß dadurch überhaupt die ernste, drohende Gesammtstimmung, die im
Hintergrunde über der ganzen Handlung schwebt, veranschaulicht wird,
worauf dann erst im Allegro der eigentliche, rein dramatische Theil der
Ouvertüre folgt; ein ziemlich regelmäßiger Wechsel des Dramatischen und
Lyrischen dagegen ist wieder in Gluck's Ouvertüre zur Iphigenie in Aulis zu
bemerken. Die mehr lyrische Ouvertüre ist vorzugsweise an die Gesammt-
stimmung des Ganzen oder, wenn auch sie concreter verfahren will, an die
Hauptunterschiede der Stimmung, durch die es sich hindurchbewegt, gewiesen;
so ist die Ouvertüre zu Idomeneo eigentlich blos eine Einleitungsmusik, die
durch ihre düstere, nur von wenigen Lichtblicken erhellte, unruhig und
schmerzlich erregte, endlich ganz in Klage sich auflösende Haltung allerdings
passend auf die Handlung vorbereitet; lyrisch ist deßgleichen Beethoven's
Egmontouvertüre, die ja nur verschiedene Zustände, gedämpfte Trauer,
schmerzerfüllte Aufraffung und Erhebung, innige Zärtlichkeit und dann nach
plötzlichem Stillstande jubelnde Freiheitsfreude an uns vorüberführt. Dem
Begriff der Ouvertüre entspricht die dramatische Art mehr als die lyrische,
sie ist concreter, anschaulicher, kräftiger, sie ist ein Bild, während die lyrische
ein zu farbenloses Tongewebe ist, außer wenn sie, wie die zur Zauberflöte,
auf eine ihr doch nicht vollkommen erreichbare Schilderung des Wechsels der
Einzelstimmungen verzichtet und statt dessen sich darauf beschränkt, ein zur
Totalstimmung des Ganzen überhaupt passendes, durch Ausdruck, Form-
schönheit und Formenmannigfaltigkeit bestimmtere Charakteristik ersetzendes
Tongemälde zu geben (und somit wiederum mehr der Festouvertüre sich
anzunähern). -- Die lyrische Ouvertüre könnte des vollen Orchesters eher
entbehren als die dramatische; diese aber bedarf es zu ihrer Charakteristik
der neben und gegen einander spielenden Affecte, Empfindungen, Leiden-
schaften, sie braucht die Orchesterpolyphonie nothwendig, um ein Bild einer
Handlung zu sein, in welcher eine Mehrheit von Charakteren auftritt, sie
braucht nicht minder die Gesammtmasse und Gesammtkraft des Orchesters,
je größer, massenhafter der Kreis der Personen, je gewichtiger der Inhalt
und das Endresultat der Handlung ist.


den Perſonen zu malen, dann im letzten weich melodiſchen Satz des erſten
Theils die behaglich vergnügte Stimmung, die das Endreſultat ſein wird,
kurz anzudeuten, endlich aber, nachdem dieß Alles wiederholt iſt, in der
pianissimo beginnenden, immer ſtärker und belebter werdenden Schlußpartie,
wo Alles ſich jagt und überholt, den unendlichen Jubel, in den ſchließlich
Alles ausgeht und der auch jene ſanftern melodiſchen Klänge übertäubt,
darſtellen zu wollen ſcheint. Etwas anders iſt es in der Ouvertüre zu Don
Juan; ſie ſtellt das Wichtigſte, den niederſchmetternden, ſchmerzlich bange-
machenden Ernſt höherer Schickſalsgewalt, der in’s Leben hereintritt und es
entzweiſchneidet, zwar dramatiſch, aber doch zugleich mit der Wirkung voran,
daß dadurch überhaupt die ernſte, drohende Geſammtſtimmung, die im
Hintergrunde über der ganzen Handlung ſchwebt, veranſchaulicht wird,
worauf dann erſt im Allegro der eigentliche, rein dramatiſche Theil der
Ouvertüre folgt; ein ziemlich regelmäßiger Wechſel des Dramatiſchen und
Lyriſchen dagegen iſt wieder in Gluck’s Ouvertüre zur Iphigenie in Aulis zu
bemerken. Die mehr lyriſche Ouvertüre iſt vorzugsweiſe an die Geſammt-
ſtimmung des Ganzen oder, wenn auch ſie concreter verfahren will, an die
Hauptunterſchiede der Stimmung, durch die es ſich hindurchbewegt, gewieſen;
ſo iſt die Ouvertüre zu Idomeneo eigentlich blos eine Einleitungsmuſik, die
durch ihre düſtere, nur von wenigen Lichtblicken erhellte, unruhig und
ſchmerzlich erregte, endlich ganz in Klage ſich auflöſende Haltung allerdings
paſſend auf die Handlung vorbereitet; lyriſch iſt deßgleichen Beethoven’s
Egmontouvertüre, die ja nur verſchiedene Zuſtände, gedämpfte Trauer,
ſchmerzerfüllte Aufraffung und Erhebung, innige Zärtlichkeit und dann nach
plötzlichem Stillſtande jubelnde Freiheitsfreude an uns vorüberführt. Dem
Begriff der Ouvertüre entſpricht die dramatiſche Art mehr als die lyriſche,
ſie iſt concreter, anſchaulicher, kräftiger, ſie iſt ein Bild, während die lyriſche
ein zu farbenloſes Tongewebe iſt, außer wenn ſie, wie die zur Zauberflöte,
auf eine ihr doch nicht vollkommen erreichbare Schilderung des Wechſels der
Einzelſtimmungen verzichtet und ſtatt deſſen ſich darauf beſchränkt, ein zur
Totalſtimmung des Ganzen überhaupt paſſendes, durch Ausdruck, Form-
ſchönheit und Formenmannigfaltigkeit beſtimmtere Charakteriſtik erſetzendes
Tongemälde zu geben (und ſomit wiederum mehr der Feſtouvertüre ſich
anzunähern). — Die lyriſche Ouvertüre könnte des vollen Orcheſters eher
entbehren als die dramatiſche; dieſe aber bedarf es zu ihrer Charakteriſtik
der neben und gegen einander ſpielenden Affecte, Empfindungen, Leiden-
ſchaften, ſie braucht die Orcheſterpolyphonie nothwendig, um ein Bild einer
Handlung zu ſein, in welcher eine Mehrheit von Charakteren auftritt, ſie
braucht nicht minder die Geſammtmaſſe und Geſammtkraft des Orcheſters,
je größer, maſſenhafter der Kreis der Perſonen, je gewichtiger der Inhalt
und das Endreſultat der Handlung iſt.


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[1077/0315] den Perſonen zu malen, dann im letzten weich melodiſchen Satz des erſten Theils die behaglich vergnügte Stimmung, die das Endreſultat ſein wird, kurz anzudeuten, endlich aber, nachdem dieß Alles wiederholt iſt, in der pianissimo beginnenden, immer ſtärker und belebter werdenden Schlußpartie, wo Alles ſich jagt und überholt, den unendlichen Jubel, in den ſchließlich Alles ausgeht und der auch jene ſanftern melodiſchen Klänge übertäubt, darſtellen zu wollen ſcheint. Etwas anders iſt es in der Ouvertüre zu Don Juan; ſie ſtellt das Wichtigſte, den niederſchmetternden, ſchmerzlich bange- machenden Ernſt höherer Schickſalsgewalt, der in’s Leben hereintritt und es entzweiſchneidet, zwar dramatiſch, aber doch zugleich mit der Wirkung voran, daß dadurch überhaupt die ernſte, drohende Geſammtſtimmung, die im Hintergrunde über der ganzen Handlung ſchwebt, veranſchaulicht wird, worauf dann erſt im Allegro der eigentliche, rein dramatiſche Theil der Ouvertüre folgt; ein ziemlich regelmäßiger Wechſel des Dramatiſchen und Lyriſchen dagegen iſt wieder in Gluck’s Ouvertüre zur Iphigenie in Aulis zu bemerken. Die mehr lyriſche Ouvertüre iſt vorzugsweiſe an die Geſammt- ſtimmung des Ganzen oder, wenn auch ſie concreter verfahren will, an die Hauptunterſchiede der Stimmung, durch die es ſich hindurchbewegt, gewieſen; ſo iſt die Ouvertüre zu Idomeneo eigentlich blos eine Einleitungsmuſik, die durch ihre düſtere, nur von wenigen Lichtblicken erhellte, unruhig und ſchmerzlich erregte, endlich ganz in Klage ſich auflöſende Haltung allerdings paſſend auf die Handlung vorbereitet; lyriſch iſt deßgleichen Beethoven’s Egmontouvertüre, die ja nur verſchiedene Zuſtände, gedämpfte Trauer, ſchmerzerfüllte Aufraffung und Erhebung, innige Zärtlichkeit und dann nach plötzlichem Stillſtande jubelnde Freiheitsfreude an uns vorüberführt. Dem Begriff der Ouvertüre entſpricht die dramatiſche Art mehr als die lyriſche, ſie iſt concreter, anſchaulicher, kräftiger, ſie iſt ein Bild, während die lyriſche ein zu farbenloſes Tongewebe iſt, außer wenn ſie, wie die zur Zauberflöte, auf eine ihr doch nicht vollkommen erreichbare Schilderung des Wechſels der Einzelſtimmungen verzichtet und ſtatt deſſen ſich darauf beſchränkt, ein zur Totalſtimmung des Ganzen überhaupt paſſendes, durch Ausdruck, Form- ſchönheit und Formenmannigfaltigkeit beſtimmtere Charakteriſtik erſetzendes Tongemälde zu geben (und ſomit wiederum mehr der Feſtouvertüre ſich anzunähern). — Die lyriſche Ouvertüre könnte des vollen Orcheſters eher entbehren als die dramatiſche; dieſe aber bedarf es zu ihrer Charakteriſtik der neben und gegen einander ſpielenden Affecte, Empfindungen, Leiden- ſchaften, ſie braucht die Orcheſterpolyphonie nothwendig, um ein Bild einer Handlung zu ſein, in welcher eine Mehrheit von Charakteren auftritt, ſie braucht nicht minder die Geſammtmaſſe und Geſammtkraft des Orcheſters, je größer, maſſenhafter der Kreis der Perſonen, je gewichtiger der Inhalt und das Endreſultat der Handlung iſt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1077. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/315>, abgerufen am 23.11.2024.