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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Bewegung in gemessenem Gleichmaaß ihren Gang geht, läßt dann abermals
stärkere Klangeffecte hören, welche ihre Energie auf's Neue beleben, u. s. f.
Ohne die Musik könnte die Rhythmik und Dynamik des Tanzes zu so
bestimmter Entfaltung gar nicht gelangen, sie erst bringt diese feinern Unter-
schiede in das Ganze hinein; die Tanzbewegung hat wohl einen innerlichen
Bewegungsrhythmus, sie durchläuft wohl an sich diese Stadien des An-
und Abschwellens, der Zu- und Abnahme, aber sie kann ihnen, wenn sie
nicht zu förmlichem Kunsttanze sich erhebt, keinen concreten Ausdruck geben,
diesen übernimmt die Musik und gibt so dem Tanze erst wahres Leben,
bestimmte Form und ebendamit auch den geistigern Charakter einer mit
Bewußtsein innerhalb einer solchen Form sich bewegenden Thätigkeit. Diese
Belebung und Vergeistigung des Tanzes setzt sich sodann aber weiter fort
bis in's Einzelnste der Melodie, der Stimmenführung, des Harmoniegebrauchs,
der feinern metrischen und rhythmischen Figurationen, der Anwendung und
Vertheilung der Instrumente; der Stimmungscharakter und der Bewegungs-
rhythmus des Ganzen wird durch dieß Alles in mannigfaltigster, sprechendster
Weise veranschaulicht; die Musik spezificirt gleichsam die unendliche Menge
bewußter und nicht bewußter Gefühlserregungen, welche die durch einander
wogende Masse durchströmen, sie läßt die Empfindungen erklingen, welche
an die Gesammtbewegung in den Individuen sich anknüpfen, und in welchen
diese selbst erst wahrhaft concret und lebendig, ihrer selbst wirklich bewußt
wird. Obwohl nun die Musik hiemit zum Tanze hinzutritt in dienender
Stellung, so begibt sie sich damit doch nicht auf ein ihr fremdes, sondern
im Gegentheil auf ein ihr ganz vorzugsweise wohlanstehendes, für sie außer-
ordentlich fruchtbares Gebiet. Ihre Stellung ist eigentlich doch die bedeu-
tendere, sofern sie die Tanzstimmung erst zu einer bewußten macht oder zur
Tanzbewegung hinzutritt als ihr höheres, ideales Bewußtsein von sich selbst,
und es erwächst ihr aus diesem Berufe ein unerschöpflicher Reichthum ächt
musikalischer Aufgaben, sie erhält dadurch die Aufforderung zu Stimmungs-
gemälden verschiedenster Art vom Feierlichen und Gravitätischen bis zum
Lustigen und Muthwilligfröhlichen herab; mit der Tanzmusik ersteht das
musikalische "Stimmungsbild" (§. 699) kleinern Umfangs, das musikalische
Genre, von welchem sie sich allerdings zu umfassendern Seelengemälden
größeren Styls erhebt, in welchem sie aber doch mit Liebe verweilt, weil
sie innerhalb dieses begrenztern Umfangs und durch die freie Anwendung
drastischer rhythmischer und dynamischer Mittel hier eine Anschaulichkeit,
graciöse Anmuth und sicher treffende Wirkung erzielt, die bei größern Werken
nicht in diesem Maaße mehr erreichbar ist. Die Musik ist hier ganz in
ihrem Elemente; das an sich so reiche Gebiet kann ihr zwar geschmälert
werden durch die Mode, durch die einseitige Richtung des Tanzes auf
stürmende Bewegtheit, welche die ausdrucksreichern, kräftigern, gemessenern

Bewegung in gemeſſenem Gleichmaaß ihren Gang geht, läßt dann abermals
ſtärkere Klangeffecte hören, welche ihre Energie auf’s Neue beleben, u. ſ. f.
Ohne die Muſik könnte die Rhythmik und Dynamik des Tanzes zu ſo
beſtimmter Entfaltung gar nicht gelangen, ſie erſt bringt dieſe feinern Unter-
ſchiede in das Ganze hinein; die Tanzbewegung hat wohl einen innerlichen
Bewegungsrhythmus, ſie durchläuft wohl an ſich dieſe Stadien des An-
und Abſchwellens, der Zu- und Abnahme, aber ſie kann ihnen, wenn ſie
nicht zu förmlichem Kunſttanze ſich erhebt, keinen concreten Ausdruck geben,
dieſen übernimmt die Muſik und gibt ſo dem Tanze erſt wahres Leben,
beſtimmte Form und ebendamit auch den geiſtigern Charakter einer mit
Bewußtſein innerhalb einer ſolchen Form ſich bewegenden Thätigkeit. Dieſe
Belebung und Vergeiſtigung des Tanzes ſetzt ſich ſodann aber weiter fort
bis in’s Einzelnſte der Melodie, der Stimmenführung, des Harmoniegebrauchs,
der feinern metriſchen und rhythmiſchen Figurationen, der Anwendung und
Vertheilung der Inſtrumente; der Stimmungscharakter und der Bewegungs-
rhythmus des Ganzen wird durch dieß Alles in mannigfaltigſter, ſprechendſter
Weiſe veranſchaulicht; die Muſik ſpezificirt gleichſam die unendliche Menge
bewußter und nicht bewußter Gefühlserregungen, welche die durch einander
wogende Maſſe durchſtrömen, ſie läßt die Empfindungen erklingen, welche
an die Geſammtbewegung in den Individuen ſich anknüpfen, und in welchen
dieſe ſelbſt erſt wahrhaft concret und lebendig, ihrer ſelbſt wirklich bewußt
wird. Obwohl nun die Muſik hiemit zum Tanze hinzutritt in dienender
Stellung, ſo begibt ſie ſich damit doch nicht auf ein ihr fremdes, ſondern
im Gegentheil auf ein ihr ganz vorzugsweiſe wohlanſtehendes, für ſie außer-
ordentlich fruchtbares Gebiet. Ihre Stellung iſt eigentlich doch die bedeu-
tendere, ſofern ſie die Tanzſtimmung erſt zu einer bewußten macht oder zur
Tanzbewegung hinzutritt als ihr höheres, ideales Bewußtſein von ſich ſelbſt,
und es erwächst ihr aus dieſem Berufe ein unerſchöpflicher Reichthum ächt
muſikaliſcher Aufgaben, ſie erhält dadurch die Aufforderung zu Stimmungs-
gemälden verſchiedenſter Art vom Feierlichen und Gravitätiſchen bis zum
Luſtigen und Muthwilligfröhlichen herab; mit der Tanzmuſik erſteht das
muſikaliſche „Stimmungsbild“ (§. 699) kleinern Umfangs, das muſikaliſche
Genre, von welchem ſie ſich allerdings zu umfaſſendern Seelengemälden
größeren Styls erhebt, in welchem ſie aber doch mit Liebe verweilt, weil
ſie innerhalb dieſes begrenztern Umfangs und durch die freie Anwendung
draſtiſcher rhythmiſcher und dynamiſcher Mittel hier eine Anſchaulichkeit,
graciöſe Anmuth und ſicher treffende Wirkung erzielt, die bei größern Werken
nicht in dieſem Maaße mehr erreichbar iſt. Die Muſik iſt hier ganz in
ihrem Elemente; das an ſich ſo reiche Gebiet kann ihr zwar geſchmälert
werden durch die Mode, durch die einſeitige Richtung des Tanzes auf
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[1071/0309] Bewegung in gemeſſenem Gleichmaaß ihren Gang geht, läßt dann abermals ſtärkere Klangeffecte hören, welche ihre Energie auf’s Neue beleben, u. ſ. f. Ohne die Muſik könnte die Rhythmik und Dynamik des Tanzes zu ſo beſtimmter Entfaltung gar nicht gelangen, ſie erſt bringt dieſe feinern Unter- ſchiede in das Ganze hinein; die Tanzbewegung hat wohl einen innerlichen Bewegungsrhythmus, ſie durchläuft wohl an ſich dieſe Stadien des An- und Abſchwellens, der Zu- und Abnahme, aber ſie kann ihnen, wenn ſie nicht zu förmlichem Kunſttanze ſich erhebt, keinen concreten Ausdruck geben, dieſen übernimmt die Muſik und gibt ſo dem Tanze erſt wahres Leben, beſtimmte Form und ebendamit auch den geiſtigern Charakter einer mit Bewußtſein innerhalb einer ſolchen Form ſich bewegenden Thätigkeit. Dieſe Belebung und Vergeiſtigung des Tanzes ſetzt ſich ſodann aber weiter fort bis in’s Einzelnſte der Melodie, der Stimmenführung, des Harmoniegebrauchs, der feinern metriſchen und rhythmiſchen Figurationen, der Anwendung und Vertheilung der Inſtrumente; der Stimmungscharakter und der Bewegungs- rhythmus des Ganzen wird durch dieß Alles in mannigfaltigſter, ſprechendſter Weiſe veranſchaulicht; die Muſik ſpezificirt gleichſam die unendliche Menge bewußter und nicht bewußter Gefühlserregungen, welche die durch einander wogende Maſſe durchſtrömen, ſie läßt die Empfindungen erklingen, welche an die Geſammtbewegung in den Individuen ſich anknüpfen, und in welchen dieſe ſelbſt erſt wahrhaft concret und lebendig, ihrer ſelbſt wirklich bewußt wird. Obwohl nun die Muſik hiemit zum Tanze hinzutritt in dienender Stellung, ſo begibt ſie ſich damit doch nicht auf ein ihr fremdes, ſondern im Gegentheil auf ein ihr ganz vorzugsweiſe wohlanſtehendes, für ſie außer- ordentlich fruchtbares Gebiet. Ihre Stellung iſt eigentlich doch die bedeu- tendere, ſofern ſie die Tanzſtimmung erſt zu einer bewußten macht oder zur Tanzbewegung hinzutritt als ihr höheres, ideales Bewußtſein von ſich ſelbſt, und es erwächst ihr aus dieſem Berufe ein unerſchöpflicher Reichthum ächt muſikaliſcher Aufgaben, ſie erhält dadurch die Aufforderung zu Stimmungs- gemälden verſchiedenſter Art vom Feierlichen und Gravitätiſchen bis zum Luſtigen und Muthwilligfröhlichen herab; mit der Tanzmuſik erſteht das muſikaliſche „Stimmungsbild“ (§. 699) kleinern Umfangs, das muſikaliſche Genre, von welchem ſie ſich allerdings zu umfaſſendern Seelengemälden größeren Styls erhebt, in welchem ſie aber doch mit Liebe verweilt, weil ſie innerhalb dieſes begrenztern Umfangs und durch die freie Anwendung draſtiſcher rhythmiſcher und dynamiſcher Mittel hier eine Anſchaulichkeit, graciöſe Anmuth und ſicher treffende Wirkung erzielt, die bei größern Werken nicht in dieſem Maaße mehr erreichbar iſt. Die Muſik iſt hier ganz in ihrem Elemente; das an ſich ſo reiche Gebiet kann ihr zwar geſchmälert werden durch die Mode, durch die einſeitige Richtung des Tanzes auf ſtürmende Bewegtheit, welche die ausdrucksreichern, kräftigern, gemeſſenern

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1071. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/309>, abgerufen am 22.11.2024.