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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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ganz verwachsen und in ähnlicher Weise von ihm abhängig ist wie von
der Stimme, stehen der Kitharist und Clavicembalist bereits frei über dem-
selben; aber diese Freiheit war hier erkauft durch eine zu groß werdende
Trennung zwischen dem Subject und Object, zwischen dem Künstler und
dem Organe, der Künstler konnte in das Organ nicht Alles hineinlegen,
was er fühlte, das Organ blieb zu objectiv, zu spröde und kalt, es duldete
seine Griffe und Risse, aber es antwortete ihm nur in gebrochenen Lauten,
die, wenn sie auch schön und prachtvoll in's Weite hallten, doch dem war-
men Leben des Gemüths so wenig entsprachen, als in der Vocalmusik die
gebrochene Sylbenrecitation es vermochte. Durch den Bogen soll es nun
hiemit anders werden, durch ihn bekommt der Künstler das widerstrebende
Organ ganz in seine Gewalt, aber allerdings dadurch, daß er auch selbst
weniger gewaltsam verfährt, es nicht mehr martert durch Schläge, Risse
und Kniffe -- außer etwa hie und da zur Abwechslung, um das Instru-
ment auch seine Fähigkeit, als Lautinstrument zu wirken (im pizzicato),
erproben zu lassen, -- sondern sich dazu versteht, es blos zu streichen mit
dem zart und weich sich anfühlenden Medium des elastisch-straffen, glatten
Haarbündels, der die Saite mit ihrer rauhern Oberfläche durch sein Auf-
undabziehen an ihr in fein vibrirende Bewegung versetzt, sie electrisirt, Funken
ihr entlockt, ohne sie unsanft hinundherzustoßen, wie der fühllose Hammer
des Clavierschlägers und der unbarmherzige Finger des Harfners es zu
thun gewohnt sind. Die Poesie der äußern Erscheinung ist damit freilich
weg, der freie, feierliche Anstand des kitharischen Apoll weicht der banausischen
Handarbeit des jetzt bedächtigst hinundherfahrenden, jetzt eifrigst fuchtelnden
Violinisten, welche seine Haltung kaum minder verunstaltet als das Flöten-
spiel die jungfräulichen Gesichtszüge der Göttin Athena und nur wenn er
zum Contrabasse greift ihm wiederum besser ansteht durch den gewaltigen
Kampf mit dem brummenden Ungeheuer, das er mit ganzer Leibeskraft an-
fassen und angreifen muß, um es zum Stehen und Reden zu bringen.
Aber aus dem prosaischen Apparat entspringt um so reicher die Quelle
einer ebenso zarten als gewaltigen und großartigen Poesie des Tones; denn
er ermöglicht es dem Künstler, seinem Instrumente Alles abzugewinnen,
was ein einzelnes musikalisches Organ überhaupt leisten kann. Qualitativ
nämlich gestattet der Gebrauch des Bogens sowohl die schärfsten, spitzesten
als die langgezogensten, gedehntesten Töne in ganz gleicher Vollkommenheit
hervorzubringen und zudem die einzelnen auf einander folgenden Töne so
eng zu verbinden, zu "schleifen," wie dieß auf keinem andern Instrument
möglich ist. Der Bogen streicht schnell an und gleitet ebenso schnell wieder
ab, damit erhalten wir die momentansten, feinsten oder auch stechendsten
Laute; er bleibt liegen, geht nur langsam auf und ab, dadurch haben wir
die Töne in unsrer Gewalt, der Zug des Armes hält länger aus als der

ganz verwachſen und in ähnlicher Weiſe von ihm abhängig iſt wie von
der Stimme, ſtehen der Kithariſt und Clavicembaliſt bereits frei über dem-
ſelben; aber dieſe Freiheit war hier erkauft durch eine zu groß werdende
Trennung zwiſchen dem Subject und Object, zwiſchen dem Künſtler und
dem Organe, der Künſtler konnte in das Organ nicht Alles hineinlegen,
was er fühlte, das Organ blieb zu objectiv, zu ſpröde und kalt, es duldete
ſeine Griffe und Riſſe, aber es antwortete ihm nur in gebrochenen Lauten,
die, wenn ſie auch ſchön und prachtvoll in’s Weite hallten, doch dem war-
men Leben des Gemüths ſo wenig entſprachen, als in der Vocalmuſik die
gebrochene Sylbenrecitation es vermochte. Durch den Bogen ſoll es nun
hiemit anders werden, durch ihn bekommt der Künſtler das widerſtrebende
Organ ganz in ſeine Gewalt, aber allerdings dadurch, daß er auch ſelbſt
weniger gewaltſam verfährt, es nicht mehr martert durch Schläge, Riſſe
und Kniffe — außer etwa hie und da zur Abwechslung, um das Inſtru-
ment auch ſeine Fähigkeit, als Lautinſtrument zu wirken (im pizzicato),
erproben zu laſſen, — ſondern ſich dazu verſteht, es blos zu ſtreichen mit
dem zart und weich ſich anfühlenden Medium des elaſtiſch-ſtraffen, glatten
Haarbündels, der die Saite mit ihrer rauhern Oberfläche durch ſein Auf-
undabziehen an ihr in fein vibrirende Bewegung verſetzt, ſie electriſirt, Funken
ihr entlockt, ohne ſie unſanft hinundherzuſtoßen, wie der fühlloſe Hammer
des Clavierſchlägers und der unbarmherzige Finger des Harfners es zu
thun gewohnt ſind. Die Poeſie der äußern Erſcheinung iſt damit freilich
weg, der freie, feierliche Anſtand des kithariſchen Apoll weicht der banauſiſchen
Handarbeit des jetzt bedächtigſt hinundherfahrenden, jetzt eifrigſt fuchtelnden
Violiniſten, welche ſeine Haltung kaum minder verunſtaltet als das Flöten-
ſpiel die jungfräulichen Geſichtszüge der Göttin Athena und nur wenn er
zum Contrabaſſe greift ihm wiederum beſſer anſteht durch den gewaltigen
Kampf mit dem brummenden Ungeheuer, das er mit ganzer Leibeskraft an-
faſſen und angreifen muß, um es zum Stehen und Reden zu bringen.
Aber aus dem proſaiſchen Apparat entſpringt um ſo reicher die Quelle
einer ebenſo zarten als gewaltigen und großartigen Poeſie des Tones; denn
er ermöglicht es dem Künſtler, ſeinem Inſtrumente Alles abzugewinnen,
was ein einzelnes muſikaliſches Organ überhaupt leiſten kann. Qualitativ
nämlich geſtattet der Gebrauch des Bogens ſowohl die ſchärfſten, ſpitzeſten
als die langgezogenſten, gedehnteſten Töne in ganz gleicher Vollkommenheit
hervorzubringen und zudem die einzelnen auf einander folgenden Töne ſo
eng zu verbinden, zu „ſchleifen,“ wie dieß auf keinem andern Inſtrument
möglich iſt. Der Bogen ſtreicht ſchnell an und gleitet ebenſo ſchnell wieder
ab, damit erhalten wir die momentanſten, feinſten oder auch ſtechendſten
Laute; er bleibt liegen, geht nur langſam auf und ab, dadurch haben wir
die Töne in unſrer Gewalt, der Zug des Armes hält länger aus als der

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[1034/0272] ganz verwachſen und in ähnlicher Weiſe von ihm abhängig iſt wie von der Stimme, ſtehen der Kithariſt und Clavicembaliſt bereits frei über dem- ſelben; aber dieſe Freiheit war hier erkauft durch eine zu groß werdende Trennung zwiſchen dem Subject und Object, zwiſchen dem Künſtler und dem Organe, der Künſtler konnte in das Organ nicht Alles hineinlegen, was er fühlte, das Organ blieb zu objectiv, zu ſpröde und kalt, es duldete ſeine Griffe und Riſſe, aber es antwortete ihm nur in gebrochenen Lauten, die, wenn ſie auch ſchön und prachtvoll in’s Weite hallten, doch dem war- men Leben des Gemüths ſo wenig entſprachen, als in der Vocalmuſik die gebrochene Sylbenrecitation es vermochte. Durch den Bogen ſoll es nun hiemit anders werden, durch ihn bekommt der Künſtler das widerſtrebende Organ ganz in ſeine Gewalt, aber allerdings dadurch, daß er auch ſelbſt weniger gewaltſam verfährt, es nicht mehr martert durch Schläge, Riſſe und Kniffe — außer etwa hie und da zur Abwechslung, um das Inſtru- ment auch ſeine Fähigkeit, als Lautinſtrument zu wirken (im pizzicato), erproben zu laſſen, — ſondern ſich dazu verſteht, es blos zu ſtreichen mit dem zart und weich ſich anfühlenden Medium des elaſtiſch-ſtraffen, glatten Haarbündels, der die Saite mit ihrer rauhern Oberfläche durch ſein Auf- undabziehen an ihr in fein vibrirende Bewegung verſetzt, ſie electriſirt, Funken ihr entlockt, ohne ſie unſanft hinundherzuſtoßen, wie der fühlloſe Hammer des Clavierſchlägers und der unbarmherzige Finger des Harfners es zu thun gewohnt ſind. Die Poeſie der äußern Erſcheinung iſt damit freilich weg, der freie, feierliche Anſtand des kithariſchen Apoll weicht der banauſiſchen Handarbeit des jetzt bedächtigſt hinundherfahrenden, jetzt eifrigſt fuchtelnden Violiniſten, welche ſeine Haltung kaum minder verunſtaltet als das Flöten- ſpiel die jungfräulichen Geſichtszüge der Göttin Athena und nur wenn er zum Contrabaſſe greift ihm wiederum beſſer anſteht durch den gewaltigen Kampf mit dem brummenden Ungeheuer, das er mit ganzer Leibeskraft an- faſſen und angreifen muß, um es zum Stehen und Reden zu bringen. Aber aus dem proſaiſchen Apparat entſpringt um ſo reicher die Quelle einer ebenſo zarten als gewaltigen und großartigen Poeſie des Tones; denn er ermöglicht es dem Künſtler, ſeinem Inſtrumente Alles abzugewinnen, was ein einzelnes muſikaliſches Organ überhaupt leiſten kann. Qualitativ nämlich geſtattet der Gebrauch des Bogens ſowohl die ſchärfſten, ſpitzeſten als die langgezogenſten, gedehnteſten Töne in ganz gleicher Vollkommenheit hervorzubringen und zudem die einzelnen auf einander folgenden Töne ſo eng zu verbinden, zu „ſchleifen,“ wie dieß auf keinem andern Inſtrument möglich iſt. Der Bogen ſtreicht ſchnell an und gleitet ebenſo ſchnell wieder ab, damit erhalten wir die momentanſten, feinſten oder auch ſtechendſten Laute; er bleibt liegen, geht nur langſam auf und ab, dadurch haben wir die Töne in unſrer Gewalt, der Zug des Armes hält länger aus als der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1034. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/272>, abgerufen am 22.11.2024.