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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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2. Die Schwierigkeiten, die bei der blos allgemein religiösen Cantate
obwalten, verschwinden bei andern Formen der Gesangmusik, denen durch
ihre Bedeutung für den Cultus entweder ein einfacherer oder ein bestimmter
charakteristischer Typus aufgedrückt ist. Das Erste ist der Fall einmal bei
den kürzern Kirchencantaten (wie sie z. B. in den ersten Bänden der
neuen Ausgabe S. Bach's enthalten sind), indem sich diese auf wenigere,
leichter überschauliche Theile beschränken. Sodann bei den sog. Motetten,
d. h. "Spruchgedichten"; es sind dieß kürzere, oft nur aus wenigen (bibli-
schen oder sonsther entnommenen) Sätzen bestehende Texte, welche eine für
das religiöse Gefühl bedeutende Wahrheit, Erinnerung, Lehre, Andachts-
empfindung enthalten, und welchen nun eine eben dieser ihrer Bedeutung,
entsprechende, sie ganz und voll ausdrückende und ausführende mehrstimmige,
insbesondere polyphone Composition unterlegt wird. Die Motetten sind,
wenn sie sich an Sprüche mehr objectiven, historischreligiösen Inhalts an-
schließen, eine Art didactischer Musik; sie gehören überhaupt, auch wo ihr
Inhalt ein lyrisch gehobener (z. B. ein Psalmspruch) ist, weniger dem
Gebiet subjectiv erregten Aufschwungs als der objectivern Sphäre einer
ruhiger sich erbauenden contemplativen Stimmung an, sie stellen sich
die Aufgabe, einzelne religiöse Grundgedanken und Grundgefühle, die in
gegebener fester Form vorliegen, dem religiösen Bewußtsein in erhebender,
wirksamer Weise gegenüberzustellen, und darum eben ist die Pronuntiation
durch Mehr- und Allstimmigkeit, durch energische, die Gedanken in vereinigter
Kraft der Stimmen und immer neuen Wendungen darlegende Polyphonie,
sowie dabei Beschränkung des Textumfangs, Kürze ihre wesentliche Form;
nur besondere Kunst ist im Stande, auch längere, z. B. Choraltexte mit
Anwendung mannigfaltigerer Gesangformen und in größerem Umfange
motettenartig zu componiren und dabei doch den Charakter der Energie
und Gedrungenheit nicht preiszugeben. Auch hier könnte man freilich sagen:
die Motette mit ihrer im Verhältniß zu ihrem kurzen Texte doch immer
breiten Ausführung ist ein Irrthum, wie die alte Oper, sie macht die Musik,
die blos Mittel des Ausdrucks sein soll, zum Zweck. Allein wenn man
so redet, so lasse man doch die Musik ganz weg und declamire einen reli-
giösen oder Sittenspruch einfach und kurz ab, natürlich nicht ohne Aus-
druck; sieht man denn nicht, daß der musikalische Ausdruck, um den es
doch in der Musik ohne Zweifel zu thun sein möchte, wächst, je mehr man
die Musik ihre Mittel entfalten läßt, und abnimmt, je engere Grenzen
man ihr ziehen will? So ist es auch hier. Die Motette erfüllt voll-
kommen den Zweck, einem einzelnen Grundgedanken des religiösen Gesammt-
bewußtseins einen vollen, erschöpfenden, hinter der innern Bedeutung nicht
zurückbleibenden Ausdruck zu verleihen, sie läßt ihn als Allgemeines, das
in den einzelnen Gliedern der religiösen Gesammtheit sich lebendig reflectirt,

2. Die Schwierigkeiten, die bei der blos allgemein religiöſen Cantate
obwalten, verſchwinden bei andern Formen der Geſangmuſik, denen durch
ihre Bedeutung für den Cultus entweder ein einfacherer oder ein beſtimmter
charakteriſtiſcher Typus aufgedrückt iſt. Das Erſte iſt der Fall einmal bei
den kürzern Kirchencantaten (wie ſie z. B. in den erſten Bänden der
neuen Ausgabe S. Bach’s enthalten ſind), indem ſich dieſe auf wenigere,
leichter überſchauliche Theile beſchränken. Sodann bei den ſog. Motetten,
d. h. „Spruchgedichten“; es ſind dieß kürzere, oft nur aus wenigen (bibli-
ſchen oder ſonſther entnommenen) Sätzen beſtehende Texte, welche eine für
das religiöſe Gefühl bedeutende Wahrheit, Erinnerung, Lehre, Andachts-
empfindung enthalten, und welchen nun eine eben dieſer ihrer Bedeutung,
entſprechende, ſie ganz und voll ausdrückende und ausführende mehrſtimmige,
insbeſondere polyphone Compoſition unterlegt wird. Die Motetten ſind,
wenn ſie ſich an Sprüche mehr objectiven, hiſtoriſchreligiöſen Inhalts an-
ſchließen, eine Art didactiſcher Muſik; ſie gehören überhaupt, auch wo ihr
Inhalt ein lyriſch gehobener (z. B. ein Pſalmſpruch) iſt, weniger dem
Gebiet ſubjectiv erregten Aufſchwungs als der objectivern Sphäre einer
ruhiger ſich erbauenden contemplativen Stimmung an, ſie ſtellen ſich
die Aufgabe, einzelne religiöſe Grundgedanken und Grundgefühle, die in
gegebener feſter Form vorliegen, dem religiöſen Bewußtſein in erhebender,
wirkſamer Weiſe gegenüberzuſtellen, und darum eben iſt die Pronuntiation
durch Mehr- und Allſtimmigkeit, durch energiſche, die Gedanken in vereinigter
Kraft der Stimmen und immer neuen Wendungen darlegende Polyphonie,
ſowie dabei Beſchränkung des Textumfangs, Kürze ihre weſentliche Form;
nur beſondere Kunſt iſt im Stande, auch längere, z. B. Choraltexte mit
Anwendung mannigfaltigerer Geſangformen und in größerem Umfange
motettenartig zu componiren und dabei doch den Charakter der Energie
und Gedrungenheit nicht preiszugeben. Auch hier könnte man freilich ſagen:
die Motette mit ihrer im Verhältniß zu ihrem kurzen Texte doch immer
breiten Ausführung iſt ein Irrthum, wie die alte Oper, ſie macht die Muſik,
die blos Mittel des Ausdrucks ſein ſoll, zum Zweck. Allein wenn man
ſo redet, ſo laſſe man doch die Muſik ganz weg und declamire einen reli-
giöſen oder Sittenſpruch einfach und kurz ab, natürlich nicht ohne Aus-
druck; ſieht man denn nicht, daß der muſikaliſche Ausdruck, um den es
doch in der Muſik ohne Zweifel zu thun ſein möchte, wächst, je mehr man
die Muſik ihre Mittel entfalten läßt, und abnimmt, je engere Grenzen
man ihr ziehen will? So iſt es auch hier. Die Motette erfüllt voll-
kommen den Zweck, einem einzelnen Grundgedanken des religiöſen Geſammt-
bewußtſeins einen vollen, erſchöpfenden, hinter der innern Bedeutung nicht
zurückbleibenden Ausdruck zu verleihen, ſie läßt ihn als Allgemeines, das
in den einzelnen Gliedern der religiöſen Geſammtheit ſich lebendig reflectirt,

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[1019/0257] 2. Die Schwierigkeiten, die bei der blos allgemein religiöſen Cantate obwalten, verſchwinden bei andern Formen der Geſangmuſik, denen durch ihre Bedeutung für den Cultus entweder ein einfacherer oder ein beſtimmter charakteriſtiſcher Typus aufgedrückt iſt. Das Erſte iſt der Fall einmal bei den kürzern Kirchencantaten (wie ſie z. B. in den erſten Bänden der neuen Ausgabe S. Bach’s enthalten ſind), indem ſich dieſe auf wenigere, leichter überſchauliche Theile beſchränken. Sodann bei den ſog. Motetten, d. h. „Spruchgedichten“; es ſind dieß kürzere, oft nur aus wenigen (bibli- ſchen oder ſonſther entnommenen) Sätzen beſtehende Texte, welche eine für das religiöſe Gefühl bedeutende Wahrheit, Erinnerung, Lehre, Andachts- empfindung enthalten, und welchen nun eine eben dieſer ihrer Bedeutung, entſprechende, ſie ganz und voll ausdrückende und ausführende mehrſtimmige, insbeſondere polyphone Compoſition unterlegt wird. Die Motetten ſind, wenn ſie ſich an Sprüche mehr objectiven, hiſtoriſchreligiöſen Inhalts an- ſchließen, eine Art didactiſcher Muſik; ſie gehören überhaupt, auch wo ihr Inhalt ein lyriſch gehobener (z. B. ein Pſalmſpruch) iſt, weniger dem Gebiet ſubjectiv erregten Aufſchwungs als der objectivern Sphäre einer ruhiger ſich erbauenden contemplativen Stimmung an, ſie ſtellen ſich die Aufgabe, einzelne religiöſe Grundgedanken und Grundgefühle, die in gegebener feſter Form vorliegen, dem religiöſen Bewußtſein in erhebender, wirkſamer Weiſe gegenüberzuſtellen, und darum eben iſt die Pronuntiation durch Mehr- und Allſtimmigkeit, durch energiſche, die Gedanken in vereinigter Kraft der Stimmen und immer neuen Wendungen darlegende Polyphonie, ſowie dabei Beſchränkung des Textumfangs, Kürze ihre weſentliche Form; nur beſondere Kunſt iſt im Stande, auch längere, z. B. Choraltexte mit Anwendung mannigfaltigerer Geſangformen und in größerem Umfange motettenartig zu componiren und dabei doch den Charakter der Energie und Gedrungenheit nicht preiszugeben. Auch hier könnte man freilich ſagen: die Motette mit ihrer im Verhältniß zu ihrem kurzen Texte doch immer breiten Ausführung iſt ein Irrthum, wie die alte Oper, ſie macht die Muſik, die blos Mittel des Ausdrucks ſein ſoll, zum Zweck. Allein wenn man ſo redet, ſo laſſe man doch die Muſik ganz weg und declamire einen reli- giöſen oder Sittenſpruch einfach und kurz ab, natürlich nicht ohne Aus- druck; ſieht man denn nicht, daß der muſikaliſche Ausdruck, um den es doch in der Muſik ohne Zweifel zu thun ſein möchte, wächst, je mehr man die Muſik ihre Mittel entfalten läßt, und abnimmt, je engere Grenzen man ihr ziehen will? So iſt es auch hier. Die Motette erfüllt voll- kommen den Zweck, einem einzelnen Grundgedanken des religiöſen Geſammt- bewußtſeins einen vollen, erſchöpfenden, hinter der innern Bedeutung nicht zurückbleibenden Ausdruck zu verleihen, ſie läßt ihn als Allgemeines, das in den einzelnen Gliedern der religiöſen Geſammtheit ſich lebendig reflectirt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1019. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/257>, abgerufen am 25.11.2024.