prinzipiell alle und jede Wiederholung vermieden, sondern, wo sie natürlich und zur einheitlichen Abrundung des Ganzen passend war, sie gleichfalls zur Anwendung gebracht hat (Tamino im ersten, Sarastro im Anfang des zweiten Acts der Zauberflöte). Wie sehr sodann im Wesen und in der Form der Arie als der ganz freien Darlegung des Empfindungsergusses namentlich Dieses liegt, dem Verlaufe, den Wechseln, den Steigerungen des Gefühls ungehemmt nachzugehen und durch diese lebendige Veranschau- lichung der Pulsschläge des Herzens, durch voll und energisch sich entfal- tenden Bewegungsrhythmus gerade wahrhaft dramatisch, ja noch dramati- scher als das Schauspiel zu wirken (keineswegs aber, wie man meint, den dramatischen Ausdruck zu stören), bedarf nur kurzer Erwähnung; mit der Arie wäre nicht blos die Musik, sondern eine Hauptgattung des Drama selbst, das rein musikalische, nur in der Musik den adäquaten Ausdruck seiner bewegtern Stimmungen und Situationen findende Drama, aus dem Kreis der Künste herausgerissen und vernichtet. Auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Sprechgesang und Arie ist noch hinzuweisen; die Decla- mation schließt die Instrumentalbegleitung nicht gerade nothwendig aus, namentlich die dramatische nicht, deren größere Erregtheit wohl durch Mit- wirkung von Instrumenten stärker hervorgehoben werden kann, aber selbst hier darf diese Mitwirkung nur eine im eigentlichsten Sinne des Worts "begleitende" sein, sich aber nicht für sich geltend machen wollen; die Decla- mation schließt sich so unmittelbar an das Wort an und verdankt alle ihre Wahrheit und Wirksamkeit so sehr eben nur dieser Unmittelbarkeit, mit der sie die einzelnen Worte und Sätze mit zutreffendem Ausdruck, Accent und Ton hervorhebt, daß eine selbständigere Instrumentalmusik ihre Klarheit und Schärfe nur trüben, ihre Einfachheit nur in Schatten stellen, die distincte Auffassung auf Seiten des Hörers nur unmöglich machen würde. Noch mehr gilt dieß von der lyrischen Declamation; auch neben ihr müssen die Instrumente entweder schweigen oder mit einer Begleitung sich begnügen, die den einfachen, kunstlosen Eindruck der gesungenen Worte nicht stört und beeinträchtigt durch Hinzuthat concreterer, den zarten Hauch, der über dem Ganzen schwebt, verwischender, die reine ätherische Klarheit zerstörender Formen. Bei der Arie dagegen verhält es sich in dieser Beziehung gerade wie bei dem Recitativ und dem kunstreichern Liede; die malende Charakteristik der Arie fordert mit Recht noch eine genauere Individualisirung durch In- strumente, und auch der Eindruck, den die Arie machen soll, der Eindruck des Ueberfließens des Gefühls in rückhaltlose volle Aeußerung seiner selbst, wird nur erreicht, wenn die Stimme nicht allein ertönt, sondern Orchester- töne sich zugesellt, deren Harmonie und Klangfülle die ganze Tiefe und Weite der Gemüthsbewegung, welche in den Einzeltönen der Melodie sich ausspricht, veranschaulichen; die Melodie für sich, eben weil sie nur ein
prinzipiell alle und jede Wiederholung vermieden, ſondern, wo ſie natürlich und zur einheitlichen Abrundung des Ganzen paſſend war, ſie gleichfalls zur Anwendung gebracht hat (Tamino im erſten, Saraſtro im Anfang des zweiten Acts der Zauberflöte). Wie ſehr ſodann im Weſen und in der Form der Arie als der ganz freien Darlegung des Empfindungserguſſes namentlich Dieſes liegt, dem Verlaufe, den Wechſeln, den Steigerungen des Gefühls ungehemmt nachzugehen und durch dieſe lebendige Veranſchau- lichung der Pulsſchläge des Herzens, durch voll und energiſch ſich entfal- tenden Bewegungsrhythmus gerade wahrhaft dramatiſch, ja noch dramati- ſcher als das Schauſpiel zu wirken (keineswegs aber, wie man meint, den dramatiſchen Ausdruck zu ſtören), bedarf nur kurzer Erwähnung; mit der Arie wäre nicht blos die Muſik, ſondern eine Hauptgattung des Drama ſelbſt, das rein muſikaliſche, nur in der Muſik den adäquaten Ausdruck ſeiner bewegtern Stimmungen und Situationen findende Drama, aus dem Kreis der Künſte herausgeriſſen und vernichtet. Auf einen weſentlichen Unterſchied zwiſchen Sprechgeſang und Arie iſt noch hinzuweiſen; die Decla- mation ſchließt die Inſtrumentalbegleitung nicht gerade nothwendig aus, namentlich die dramatiſche nicht, deren größere Erregtheit wohl durch Mit- wirkung von Inſtrumenten ſtärker hervorgehoben werden kann, aber ſelbſt hier darf dieſe Mitwirkung nur eine im eigentlichſten Sinne des Worts „begleitende“ ſein, ſich aber nicht für ſich geltend machen wollen; die Decla- mation ſchließt ſich ſo unmittelbar an das Wort an und verdankt alle ihre Wahrheit und Wirkſamkeit ſo ſehr eben nur dieſer Unmittelbarkeit, mit der ſie die einzelnen Worte und Sätze mit zutreffendem Ausdruck, Accent und Ton hervorhebt, daß eine ſelbſtändigere Inſtrumentalmuſik ihre Klarheit und Schärfe nur trüben, ihre Einfachheit nur in Schatten ſtellen, die diſtincte Auffaſſung auf Seiten des Hörers nur unmöglich machen würde. Noch mehr gilt dieß von der lyriſchen Declamation; auch neben ihr müſſen die Inſtrumente entweder ſchweigen oder mit einer Begleitung ſich begnügen, die den einfachen, kunſtloſen Eindruck der geſungenen Worte nicht ſtört und beeinträchtigt durch Hinzuthat concreterer, den zarten Hauch, der über dem Ganzen ſchwebt, verwiſchender, die reine ätheriſche Klarheit zerſtörender Formen. Bei der Arie dagegen verhält es ſich in dieſer Beziehung gerade wie bei dem Recitativ und dem kunſtreichern Liede; die malende Charakteriſtik der Arie fordert mit Recht noch eine genauere Individualiſirung durch In- ſtrumente, und auch der Eindruck, den die Arie machen ſoll, der Eindruck des Ueberfließens des Gefühls in rückhaltloſe volle Aeußerung ſeiner ſelbſt, wird nur erreicht, wenn die Stimme nicht allein ertönt, ſondern Orcheſter- töne ſich zugeſellt, deren Harmonie und Klangfülle die ganze Tiefe und Weite der Gemüthsbewegung, welche in den Einzeltönen der Melodie ſich ausſpricht, veranſchaulichen; die Melodie für ſich, eben weil ſie nur ein
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[1006/0244]
prinzipiell alle und jede Wiederholung vermieden, ſondern, wo ſie natürlich
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zur Anwendung gebracht hat (Tamino im erſten, Saraſtro im Anfang des
zweiten Acts der Zauberflöte). Wie ſehr ſodann im Weſen und in der
Form der Arie als der ganz freien Darlegung des Empfindungserguſſes
namentlich Dieſes liegt, dem Verlaufe, den Wechſeln, den Steigerungen
des Gefühls ungehemmt nachzugehen und durch dieſe lebendige Veranſchau-
lichung der Pulsſchläge des Herzens, durch voll und energiſch ſich entfal-
tenden Bewegungsrhythmus gerade wahrhaft dramatiſch, ja noch dramati-
ſcher als das Schauſpiel zu wirken (keineswegs aber, wie man meint, den
dramatiſchen Ausdruck zu ſtören), bedarf nur kurzer Erwähnung; mit der
Arie wäre nicht blos die Muſik, ſondern eine Hauptgattung des Drama
ſelbſt, das rein muſikaliſche, nur in der Muſik den adäquaten Ausdruck
ſeiner bewegtern Stimmungen und Situationen findende Drama, aus dem
Kreis der Künſte herausgeriſſen und vernichtet. Auf einen weſentlichen
Unterſchied zwiſchen Sprechgeſang und Arie iſt noch hinzuweiſen; die Decla-
mation ſchließt die Inſtrumentalbegleitung nicht gerade nothwendig aus,
namentlich die dramatiſche nicht, deren größere Erregtheit wohl durch Mit-
wirkung von Inſtrumenten ſtärker hervorgehoben werden kann, aber ſelbſt
hier darf dieſe Mitwirkung nur eine im eigentlichſten Sinne des Worts
„begleitende“ ſein, ſich aber nicht für ſich geltend machen wollen; die Decla-
mation ſchließt ſich ſo unmittelbar an das Wort an und verdankt alle ihre
Wahrheit und Wirkſamkeit ſo ſehr eben nur dieſer Unmittelbarkeit, mit der
ſie die einzelnen Worte und Sätze mit zutreffendem Ausdruck, Accent und
Ton hervorhebt, daß eine ſelbſtändigere Inſtrumentalmuſik ihre Klarheit
und Schärfe nur trüben, ihre Einfachheit nur in Schatten ſtellen, die
diſtincte Auffaſſung auf Seiten des Hörers nur unmöglich machen würde.
Noch mehr gilt dieß von der lyriſchen Declamation; auch neben ihr müſſen
die Inſtrumente entweder ſchweigen oder mit einer Begleitung ſich begnügen,
die den einfachen, kunſtloſen Eindruck der geſungenen Worte nicht ſtört und
beeinträchtigt durch Hinzuthat concreterer, den zarten Hauch, der über dem
Ganzen ſchwebt, verwiſchender, die reine ätheriſche Klarheit zerſtörender
Formen. Bei der Arie dagegen verhält es ſich in dieſer Beziehung gerade
wie bei dem Recitativ und dem kunſtreichern Liede; die malende Charakteriſtik
der Arie fordert mit Recht noch eine genauere Individualiſirung durch In-
ſtrumente, und auch der Eindruck, den die Arie machen ſoll, der Eindruck
des Ueberfließens des Gefühls in rückhaltloſe volle Aeußerung ſeiner ſelbſt,
wird nur erreicht, wenn die Stimme nicht allein ertönt, ſondern Orcheſter-
töne ſich zugeſellt, deren Harmonie und Klangfülle die ganze Tiefe und
Weite der Gemüthsbewegung, welche in den Einzeltönen der Melodie ſich
ausſpricht, veranſchaulichen; die Melodie für ſich, eben weil ſie nur ein
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1006. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/244>, abgerufen am 05.12.2024.
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